Der Sieg der Willkür: Alaa al-Aswanis Roman „Bäume streifen durch Alexandria“ über das Ägypten der 1960er Jahre ist eine Warnung vor Xenophobie, Dikatur und Nationalismus

„Ich sehe streifende Bäume“. Im Gespräch mit seiner Frau Lydda zitiert der Maler Anis in Alaa al-Aswanis neuem Roman die Vision einer alten arabischen Hellseherin, um die allmähliche Zerstörung des alten Alexandria vorherzusagen, in dem beide leben.

In seinem neuen Werk nimmt Alaa al-Aswani das Motiv des vorhergesagten Untergangs wie in William Shakespeare „Macbeth“ auf. In dem Drama sagen dem Schotten drei Hexen die Zerstörung seines Königreiches durch einen Wald voraus, der sich bewegt.

„Bäume streifen durch Alexandria“ ist der fünfte Roman des 1957 in Kairo geborenen ägyptischen Schriftstellers. Der Wortführer der ägyptischen Opposition, der heute im US-Exil lebt, beschreibt darin die Entwicklung der sozialistischen Republik Gamal Abdel Nassers in den 1960er Jahren am Nil.

Wie schon in seinem 2007 erschienenen, im gleichen Jahr verfilmten Erfolgsroman „Der Jakubiyān-Bau“, in dem al-Aswani ein Panorama des Ägyptens der 1990er Jahre im Spiegel des Lebens in einem Kairoer Wohnhaus zeichnet, entfaltet der Autor das Geschehen nicht als Historien-, sondern als Gesellschaftsroman.

Mitternächtliche Diskussionsrunde

Sein Nukleus ist eine Gruppe von Alexandriner:innen, die sich mitternachts im Obergeschoss des Restaurants Artinos zu einer freizügigen Diskussionsrunde trifft, die den Namen „The Caucus“ trägt.

Vom amourös begabten Geschäftsführer Carlo über die intellektuelle Buchhändlerin Chantal bis zu dem Schokolade-Fabrikanten Tony haben fast alle Protagonistinnen ihre kleinen Geheimnisse und Verletzungen, Abgründe und Liebschaften – und einen migrantischen Hintergrund. Und sie reden offen.

In den sich wandelnden Beziehungen der Mitglieder der Runde untereinander und mit der immer unduldsamer auftretenden Staatsmacht, spiegelt al Aswani die schleichende Auflösung der multikulturellen Metropole Alexandria.

Er zeigt, wie Nassers Regime Xenophobie und Nationalismus für seine gefährdete Herrschaft instrumentalisiert und sich seine antikoloniale Befreiungsrevolution in eine brutale Diktatur verwandelt. In ihr verfangen sich die Mitglieder des Caucus, werden unter Druck sowohl zu Handlangern wie zu Opfern: solche fremdenfeindlichen Hasses, Enteignung und Vertreibung.

TV-Serie mit Cliffhangern

Al-Aswani transportiert ein politisch brisantes Thema hervorragend im Modus massenkultureller Unterhaltung. Versiert kleidet er die komplexe Handlung und die unterschiedlichen Charaktere in die Form einer kurz getakteten TV-Serie mit Cliffhangern, die die Spannung treiben. Die Mischung aus auktorialem und Ich-Erzählern weitet sein spannendes Werk zu einem multiperspektivischen Roman.

„Bäume streifen durch Alexandria“ ist mehr als die literarische Verarbeitung nahöstlicher Zeitgeschichte. Er ist eine, zur eindrücklichen Metapher verdichtete Warnung vor der Verengung des Denkens, wie sie auch heute wieder auf der politischen Tagesordnung steht.

„Alle Errungenschaften eines Diktators sind wie Sandburgen. Eine Welle genügt, um sie zu zerstören“ ist sich der Rechtsanwalt Abbas zu Beginn des Romans noch sicher. Am Ende ist die Tischrunde nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ihr kleines Königreich des Freisinns und der Toleranz ist dem vorrückenden Wald der Willkür und der Repression erlegen.

Alaa al-Aswani; Bäume streifen durch Alexandria. Roman. Aus dem Arabischen von Markus Lemke. Hanser-Verlag, München 2025, 444 Seiten, 30 Euro

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