
„Regen kommt!“. Dass der klagende Ruf, mit dem eine schöne Frau im blaugrün schimmernden Pfauengewand vergangenes Wochenende bei drückender Hitze gravitätisch durch den Stadtpark von Baden-Baden schritt, rettenden Regen beschwor, war den Schaulustigen, die das seltsame Ereignis anlockte, sicher nicht bewusst.
Es war das fremde Symbol, das viele der stolzen, huldvoll signierte Pfauenfedern austeilenden Gestalt bis in die Staatliche Kunsthalle folgen ließ, die inmitten der urbanen Idylle liegt.
Man darf die geheimnisvolle Performance, mit der die deutsch-kurdische Künstlerin Mehtap Baydu ihre erste große Einzelausstellung in Deutschland einleitete, nicht als Tribut an irgendeinen orientalistischen Folklorismus missverstehen.
In der jesidischen Kultur symbolisiert der Pfau die Bitte um Hilfe, aber auch Erneuerung und Transformation. Und wenn es ein Motiv gibt, welches das Werk der 1972 im südostanatolischen Bingöl geborenen Baydu durchzieht, dann sind es diese Aggregatzustände.
In der ausufernden Transitzone der Kunst zwischen der Türkei und Deutschland gehört Mehtap Baydu zu den bemerkenswertesten Vertreterinnen ihrer Generation. Auch bei ihr zählen Topoi wie Migration und Identität, Herkunft und Heimat, Geschlecht und Körper zu den künstlerischen Leitthemen.

Wie kaum eine andere schafft es diese Künstlerin aber, das Politische, dem in dem Land ihrer Geburt niemand ausweichen kann, in eine bezwingende poetische Form zu überführen.
Mit viel intellektueller Empathie gelingt es Kurator Sandeep Sodhi, dieses Prinzip in der sparsam, aber intensiv inszenierten Schau herauszuarbeiten. Sie macht deutlich, was der Kunstszene in Baden-Baden demnächst fehlen könnte.
Nach dem Abgang des umstrittenen Direktorenduos Çağla Ilk und Misal Adnan Yildiz hat die Landesregierung die Kunsthalle trotz heftigen Protestes für einige Jahre zur Interimsspielstätte des nicht als Speerspitze des Zeitgenössischen bekannten Badischen Landesmuseums bestimmt.
Eines der ersten Beispiele dieser unnachahmlichen Fähigkeit zur poetischen Formgebung ist die von Baydu erfundene Person des Osman.
Auf einer Fotografie verkörpert die Künstlerin selbst den fiktiven, Fotografien der 60er Jahre nachempfundenen, „Gastarbeiter“, den sie 2009 erfolgreich einige Jahre in der Westerwald-Gemeinde Hachenburg anmeldete.
In einem winterlichen Schneefeld auf einem Stuhl sitzend, gekleidet in einen steifen, dunklen Männeranzug nach Art der frühen Gastarbeiter, repräsentiert die Figur einen sozialen Typus.
Unterläuft dieses Rollenbild aber zugleich als verwirrender, androgyner Zwitter, einem Gender-trouble-Symbol, dessen Lippen ein feines Lächeln wie das der Mona Lisa umspielt.
Ob Baydu aus dem rötlichen Flanellstoff Pazen, den ihre Mutter einst trug, eine Büste als Selbstporträt fertigt, um sich in die Kontinuität der Generationen zu stellen. Oder ob sie sich 2015 für ihre Arbeit „Kokon“ in einer 18tägigen Performance in eine Hohlform einstrickte, deren Fäden sie aus 33 Hemden von Männern geschnitten hatte, denen sie in ihrem Leben begegnete.
Bei dieser Künstlerin ist alles ins Soziale Zielende immer durch ihren eigenen Körper beglaubigt. Im ersten Stock der Kunsthalle stehen die Besucher:innen vor zwei von der Decke hängenden Bügeln, über die zwei Glasskulpturen gelegt sind. Der erste Guss bildet Baydus gesamten Körper ab, der zweite als Ausschnitt ihre Brust.
Wer die transparenten, fließenden Stücke betrachtet, lässt sich auf das Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe ein. Einerseits wird die Künstlerin zum statischen Objekt, andererseits legt sie Intimes offen. Manch einer mag sich auch fragen, was der beliebte Spruch „aus der eigenen Haut zu schlüpfen“, tatsächlich bedeuten könnte.
Dann erhebt sich die Künstlerin wieder vom Individuellen zum Universellen. Wenn Baydu ein Stoffstück aus gehäkelter Spitze, die ihre Mutter einst als „Mitgift“ für sie anlegte, auf ihren Ellbogen, ihren ausgebreiteten Armen oder auf ihrem Nacken fotografiert, abstrahiert sie das Symbol der sozialen Rolle der Frau zum poetischen Objekt. Es wird zu Kunst und damit zum Symbol für Freiheit.

Als Baydu ihre „Regen Kommt!“-Performance erstmals 2015 auf der Mardin-Biennale in Kurdistan aufführte, war der Bezug zu der von Krieg und Dürre verheerten Region offenkundig: Den Boden vom Blut zu reinigen und auf ein friedliches Morgen zu hoffen. In Baden-Baden hat sie diesen Mythos auf eine abstrakte Ebene gehoben.
In ihrer, der Schau den Titel gebenden Installation „Kendi Yağmurunu Yağdırmak – Lass Deinen Regen regnen“ können Besucher:innen Wasser über eine, aus türkisfarben schimmernder Seide gefertigte Decke gießen, in die ein Pfauenmotiv eingewebt ist.
Die Idee hätte Joseph Beuys gefallen. Dessen Arbeit hatte die Bildhauerei-Absolventin der Ankaraer Hacettepe-Universität und später der Kasseler Kunsthochschule, auf einer Istanbul-Biennale Ende der 90er Jahre Mal kennengelernt. Fasziniert wandte sie sich der Sozialen Plastik zu.
An dem Wäscheständer mit der Decke, unter dem Boxen das vergossene Wasser wieder auffangen, wird mit dem Guss aus einer angehängten Schöpfkelle jeder Mensch zum Initiator eines Kreislaufs kreativer Energie.
Mehtap Baydu: Lass deinen Regen regnen (Kendi Yağmurunu Yağdırmak). Kunsthalle Baden-Baden, Noch bis zum 14.09.2025