Editorial: Ästhetik und Demokratie

Ästhetik und Demokratie. Auf den ersten Blick ist ist Helmut Kohl kein gutes Beispiel für den Zusammenhang der beiden Themen. Denn der Schwarze Riese aus der Pfalz, wie der damalige CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler gerne genannt wurde, stand 16 Jahre lang für die hässliche Seite der Politik. Kein Tag verging, ohne dass ein Kübel Spott über den Mann ausgeschüttet wurde, den seine Kritiker wegen seiner charakteristischen Leibesfülle gern „Birne“ nannten. Für den Publizisten Karlheinz Bohrer wurde Kohl zum Inbild der Mediokrität und Uneleganz der westdeutschen Nachkriegspolitik. Er mokierte sich über diese (Bonner) Ästhetik des Provisoriums und des symbolischen Understatements.

Als Bohrers Antipoden könnte man den Kunsthistoriker Walter Grasskamp heranziehen, für den Demokratie dann am ehesten gewährleistet ist, wenn sie „unästhetisch“ ist. Denn die Vielfalt der in der Demokratie verhandelten  Interessen verbiete es, sie auf einen ästhetischen Punkt zu bringen. Ein Politiker wie Barack Obama, der alle Vorteile des Ästhetischen auf seiner Seite hat, müsste dem linksliberalen Grasskamp eigentlich gut gefallen. Doch spätestens seit dem Nationalsozialismus steht  die forcierte Inszenierung von Politik unter dem Verdacht der Legitimation der Tyrannei.

Für Grasskamp liegt die Stärke der Demokratie gerade in dem Verzicht auf eine geschlossene ästhetische Repräsentation. In diesem Sinne verkörpert Angela Merkel die Ästhetik der Demokratie in Reinkultur. Ganz anders als Lady Margaret Thatcher mit ihrer geschlossenen, stets kampfbereiten Ästhetik, mit der die deutsche Kanzlerin neuerdings häufig und zu Unrecht verglichen wird.

Wenn es in diesem Blog in unregelmässigen Abständen um das Verhältnis von Ästhetik&Demokratie gehen soll, dann nicht im normativen Sinn. Hier will ich die ästhetischen und symbolischen Formen, in denen sich Demokratie vollzieht, beobachten und analysieren.  Wenn ich hier für den Zusammenhang von Ästhetik und Demokratie plädiere, dann nicht unter dem Motto: „Unsere Politik soll schöner werden!“ Sondern um auszuloten, welche ästhetischen Potentiale für das Ziel jeder fortschrittlichen Politik mobilisiert werden können: Die Emanzipation des Menschen aus selbst- und fremdverschuldeter Unmündigkeit.