Wie weiter mit den Biennalen und Kunstausstellungen?

„Himmelfahrtskommando“. So hat der Kunsthistoriker Walter Grasskamp einmal die Aufgabe der künstlerischen Leitung der documenta genannt. Der Ausgleich zwischen den politischen und ästhetischen Interessen dieses Unternehmens grenzt ohnehin an die Quadratur des Kreises. Nach der verunglückten documenta 15 wird diese Herkulesaufgabe noch unlösbarer.

Welche ambitionierte Kurator:innen werden sie in fünf Jahren noch übernehmen wollen? Jetzt, wo der Ruf nach mehr staatlicher Kontrolle und dem „verantwortlichen“, sprich starken Kurator wieder im Raum steht? Unübersehbar steht die Frage im Raum, wie in Zukunft Großausstellungen gemacht werden sollten.

Um es gleich vorwegzunehmen: Nur weil die documenta fifteen den politischen Anspruch der Kunst scheinbar überdehnt hat, sollten Großausstellungen und Biennalen nicht darauf verzichten, die großen Fragen aufwerfen. Und sich auf’s Lokale zurückziehen wie die Busan Biennale, die gerade unter dem Titel „We, On the Rising Wave“ über die Zukunft des Hafens in der zweitgrößten Metropole Südkoreas sinniert.

Die Kritik an dem Megalomanen, Spektakulären und Abgehobenen globaler Kunstevents ist berechtigt. Trotzdem leben sie von der Konfrontation mit dem Unerhörten, dem Nicht-Erwarteten, Noch-Nie-Dagewesenen. „Healing“ und „Care“ heißen die neuen Zauberworte des Kunstdiskurses. Aber Kunstausstellungen müssen herausfordern, schockieren, nicht bloß Communities streicheln oder Standorte reparieren wie die Manifesta. Mit seiner Arbeit „Zeige Deine Wunde“ rief Joseph Beuys‘ schließlich nicht nach einem Mullverband.

Deswegen sollten Biennalen und Großausstellungen sich auch nicht in das keimfreie, unpolitische Schneckenhaus eines luxuriösen Eskapismus zurückziehen, wie ihn die neue Kunstmesse Paris+ der Art Basel an der Seine so verführerisch inszenierte. Oder in die Idee einer überzeitlichen Ästhetik zurückfallen wie 1982 Rudi Fuchs mit seiner güldenen documenta 7.

Die globalen Herausforderungen: Von der Erosion der Demokratie über die neue Armut, Flucht und Migration bis zum Klimawandel tangieren auch die Kunst und Künstler:innen. Sie dürfen nicht allein der Politik überlassen werden, der ästhetisch-sinnliche Komplex muss sich hier einbringen. Modigliani-, Louise-Bourgeois- oder Olafur Eliasson-Retrospektiven haben wir genug gesehen.  

Nicht etwa irgendeine Nationalgalerie, sondern das Zeppelin-Museum in Friedrichshafen macht es vor: „Fetisch Zukunft. Utopien der dritten Dimension“ heißt seine neue Winterschau. Auf seinem Online-„debatorial“ können alle mitdiskutieren.

Geboren aus dem Geist der kolonialen Repräsentation des 19. Jahrhunderts haben sich Biennalen und Großausstellungen zu Laboren des sozialen und ästhetischen Experiments, zu Foren der Welterfindung, dem Terrain einer Gegenwelt emanzipiert – dem Nukleus jeder Kunst.

Spätestens nach dem 2. Weltkrieg bezogen sie ihre Energie aus der Vision einer besseren Zukunft, einer lebenswerteren Welt, aus der Idee, dass alles ganz anders sein könnte. So haben sie eine Öffentlichkeit jenseits der ausgelaugten Polit-Rituale etabliert. Wann wurde zuletzt ein Wahlkampf unter dem Motto „All the worlds futures“ geführt – Okwui Enwezors Titel für die Venedig-Biennale 2015?

Keine Missverständnisse: Kunst ist nicht die bessere Politik. Aber sie kann die brennenden Fragen anders stellen. Dieses Potential schöpfen Kurator:innen dann am besten aus, wenn sie der Ästhetik den gleichen Rang einräumen wie der Ethik. Archive, Manifeste, Statistiken und Workshops sind das eine. Aber erst das befremdliche Objekt, das verstörende Setting, die verwirrende Bewegung lösen aus den Evidenzen des Alltags – der starting point jeder Veränderung.

Gebraucht würde diese Veränderung bei der Gattungsfrage Nummer eins: dem Überleben der Erde. Die Zeit ist reif für eine „grüne“ documenta, einer Schau ausschließlich zu dem Thema eines anderen Stoffwechsels mit der Natur. Gesucht wird eine ökologische Variante von Jean-Hubert Martins legendärer Schau „Magiciens de la terre“ – Joseph Beuys‘ 7000 Eichen goes planetary sozusagen.

Solch eine Schau könnte zukünftiges Ausstellungsmachen beispielhaft vorführen: Nachhaltig in Organisation, Aufbau und Architektur, als Kollaboration von Kurator:innen, Initiativen und Künstler:innen, divers beim Personal, offen für kunstnahe Disziplinen.

Dieser Ansatz ist kompatibel mit einer Ästhetik größtmöglicher Differenz zur sozialen Wirklichkeit. So ließe sich nach dem vermeintlichen Scheitern der Kollektive in Kassel auch der Ruf nach dem starken Kurator konterkarieren. Die Idee „One curator, one vision“ ist obsolet. Es kann im Kunstfeld kein Zurück zu einer auktorialen Sprecherposition geben wie sie noch Harald Szeemann oder selbst ein Teamworker wie Okwui Enwezor einnahmen.

Kurator:innen sind temporäre Treuhänder:innen der artifiziellen Reichtümer einer polyphonen Welt, in der die transatlantische Westmoderne nicht länger den Ton angibt. Ihr Privileg, ästhetische Stichworte zur Situation der Zeit zu positionieren, ist eine Macht auf Zeit. Kuratorische Verantwortung heißt: Transparenz bei der Strategie, Respekt vor den Artefakten, inklusiv bei Kommunikation und Debatte.

Sie müssen nachvollziehbar machen, wer aus welcher Perspektive welchem Publikum welche Geschichte über welchen Gegenstand erzählt. Und woher letztere stammen. ruangrupa ist das nicht ganz geglückt. Doch nichts anderes als die Anerkennung dieser Essentials steckt hinter ihrer weiter gültigen Idee einer „global ausgerichteten, kooperativen und interdisziplinären Kunst- und Kulturplattform“.

Zwischen Repression und Selbstbehauptung. Zur Lage der Kunst in der Türkei Anfang 2023

„Natur“. „Gerechtigkeit“. „Gleichheit“.  Die Besucher des alten Gaswerks Müze Gazhane im Istanbuler Stadtteil Kadiköy staunten vergangenen September nicht schlecht, als sie die schwungvolle Performance „Flag’s Project“ bestaunten. Bei der Arbeit der indonesischen Künstlerin Arahmaiani für die 17. Istanbuler Kunstbiennale schwangen die Tänzer auf einer riesigen Bühne Fahnen mit Codewörtern des zivilen Ungehorsams, die schon im Gezi-Aufstand 2013 eine Rolle gespielt hatten.

Der letzte Kunstherbst am Bosporus war eine kleine Überraschung. Mit jedem Dekret ihres autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rückt die Türkei näher in Richtung Diktatur. Doch wie um klarzumachen, dass die unabhängige Kunst nicht aufgibt, zeigte sie demonstrativ Präsenz.

Dass die Biennale widerständige türkische Kunst- und Ökologieinitiativen mit internationalen Pendants in einem Dutzend Istanbuler Artspaces vernetzte, war dabei ebenso ein Zeichen wie die Präsentation der Funde aus dem bis dato nahezu unbekannten Frauenarchiv der Stadt Istanbul in einem von ihnen.

Von einer Revue der türkischen Performancekunst der 90er Jahre im Kunsthaus Salt bis zur feministischen Schau „Mis(s)placed Woman?“ in dem Kunstraum „Depo“ des seit viereinhalb Jahren inhaftierten Kunstmäzens Osman Kavala reichte die unübersehbare Anzahl von Ausstellungen rund um die Biennale.

Selbst der 2017 aus dem Amt als Chef des avantgardistischen Kunstverbunds „Salt“ gedrängte Kurator Vasif Kortun kuratierte eine Schau der israelischen Künstlerin Nira Pereg zu Sicherheit und Kontrolle im öffentlichen Raum. Das Yapı Kredi-Kulturzentrum im Herzen des Touristenviertels Beyoğlu zeigte unter dem Titel „Leben, Tod, Liebe und Gerechtigkeit“ eine Ausstellung, die das brutale Vorgehen des türkischen Militärs im kurdischen Südosten oder die verbotene Demonstration der „Samstag-Mütter“ aufgriff.

Und für ein Land, dessen Regierung regelmäßig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln lässt, war es ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli in ihrem Skulpturenpark die Plexiglas-Statue eines Kindes mit einer Regenbogenfahne aufstellte.

In diesem Jahr steht die Wiedereröffnung des privaten, vom Star-Architekten Renzo Piano neu errichteten Kunstmuseums Istanbul Modern der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı an, die auch die IKSV-Stiftung finanziert, die die Biennale trägt. Anfang Oktober hatte der Staatspräsident selbst das neue Haus der Kunstsammlung der renommierten Istanbuler Mimar Sinan-Kunstuniversität eröffnet. Alles in Ordnung also mit der Kunst am Bosporus?

Das herbstliche Zwischenhoch ist kein Grund für Entwarnung. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im symbolträchtigen, 100. Jahr der Republikgründung 1923, verschärfen Erdoğan und seine AK-Partei ihren Zugriff auf das Land. Sie ziehen nicht nur die populistische Daumenschraube an, wie die vom Präsidenten höchstpersönlich vergangenen Sommer losgetretene Hatz auf die türkische Pop-Diva Sezen Aksu. Die hatte sich in einem Lied über den Propheten Adam lustig gemacht.

Reihenweise wurden auch Theateraufführungen, Konzerte und Festivals verboten. Vor kurzem verabschiedete das türkische Parlament zudem ein neues Mediengesetz. Wegen eines unbedachten Tweets kann man in der Türkei nun drei Jahre ins Gefängnis wandern. Und was nützen die 164 Museen, die Erdoğan in den letzten 20 Jahren eröffnet haben will, wenn sich dort immer weniger etwas trauen? 

Es gehört freilich zu den Paradoxien der „Neuen Türkei“, die Erdoğan aufbauen wollte, dass der immer rigideren, politischen Dominanz keine kulturelle Hegemonie entspricht. „Politische Macht ist eine Sache. Sozial und kulturell zu regieren ist eine ganz andere Sache. Wir sind seit 14 Jahren an der Macht, aber wir haben immer noch Probleme im sozialen und kulturellen Bereich“ hatte der Staatchef schon 2017 vor der islamischen Erziehungsstiftung Ensar geseufzt.

Seine ein Jahr später lancierte Gegenoffensive in Gestalt der „Yeditepe-Biennale“ für die traditionellen Künste wie Kalligraphie, Miniaturmalerei oder Goldschmiedekunst, fand jedoch wenig Anklang. Was die Kunst angeht, hält sich die Intelligenz lieber an die Privatmuseen der großen, ökonomisch zwar opportunistischen, kulturell aber liberalen Industriellenfamilien wie Koç, Sabancı oder Borusan, private Galerien und Artspaces. Ihnen folgt neuerdings die Stadt Istanbul.

Das unter dem Namen „Müze Gazhane“ neu eröffnete alte Gaswerk im liberalen Kadiköy, Schauplatz von Arahmainis Flaggenparade, ist eines von sechs neuen, in der Türkei beispiellosen, öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CH-Partei neue Räume öffnen will. Der charismatische Kunstfreund hat ihr demokratisches Potenzial erkannt.

So gleicht die Lage der Kunst am Bosporus derzeit einem Kippmoment zwischen Repression und Selbstbehauptung. Gebannt warten alle auf den Ausgang der Wahlen im Juni. Gewinnt der trickreiche Präsident ein letztes Mal, dürften die letzten verbliebenen Künstler:innen und Intellektuelle ihre Koffer packen. Sollte die Opposition gewinnen, womöglich gar mit ihrem Traumkandidaten İmamoğlu, könnte sich das Kunstwunder wiederholen, das das Magazin „Newsweek“ 2005 mit seinem Titel „Cool Istanbul“ bejubelte.