Aby Warburg und die Stunde Null der Bildwissenschaft

Was bedeutet es, dass ein persischer Künstler aus dem 14. Jahrhundert die geschwungene Linie der chinesischen Bildsprache in seine Landschaftsminiatur übernahm? Und wie kommt es, dass der chinesische Künstler Ai Wei Wei diese Linie in seine kostbare Porzellanskulptur „Prototype for the Wave“aus dem Jahr 2004 integriert?

Warum erinnert die Zeichnung einer indischen „Kurtisane, die sich ihr Haar kämmt“ aus dem 19. Jahrhundert so frappierend an eine Figur von Henri Matisse? Und der Musterentwurf des japanischen Landschaftszeichners Katsushika Hokusai von 1835 an den Barcode der digitalen Warenkultur von heute?

Auf Schritt und Tritt rätselten die Besucher der documenta 12 im Jahre 2007 über solche verblüffenden Parallelen. Wegen der exzentrischen Bildauswahl und diverser Pannen fiel die Schau von Roger Buergel, heute Chef des Zürcher Johann-Jacobs-Museums, und seiner Frau Ruth Noack, damals zwar bei der Kritik durch.

Doch wenn sie etwas belegte, dann: Wie sehr der Kuratoren Idee von der „Migration der Form“ und dem „Flechtwerk politischer Formbeziehungen“ einem großen Vorbild folgte: Dem berühmten „Bilderatlas“ Aby Warburgs.

Es ist dieser ikonische Kunstgriff, der den 1866 in Hamburg geborenen Kunsthistoriker, Spross einer jüdischen Bankiersfamilie, zu einer mythischen Überfigur nicht nur der Kunstgeschichte, sondern der gesamten Kulturwissenschaft hat werden lassen.

So wie dieses Instrument bis heute in der zeitgenössischen Kunstpraxis nachhallt, ist es also weit mehr als eine staubige, archivalische Pflichtübung, wenn in Berlin nun ein mythisch aufgeladenes Projekt europäischer Kunstgeschichte in zwei Berliner Ausstellungen im Haus der Kulturen der Welt (HKW) und der Gemäldegalerie erstmals so vollständig rekonstruiert wird, wie es sein Urheber selbst nie zu Gesicht kam.

Als Kunsthistoriker hatte sich Warburg mit dem Nachleben der Antike in der Renaissance beschäftigt. Die Bildende Kunst war ihm aber kein Selbstzweck. Vielmehr nutzte er sie als Demonstrationsobjekt, um dem auf die Spur zu kommen, was man eine Universalgrammatik kultureller Ausdrucksformen nennen könnte.

„Mnemosyne“ taufte er sie nicht umsonst. Die griechische Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen schien ihm die richtige Metapher für seine Obsession, der Wanderung symbolischer Formen quer durch alle Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte nachzuspüren.

Das Wort prangte über dem Eingang seiner Villa in Hamburg. Von 1924 bis zu seinem Tod 1929 kombinierte er dort Bilder von Kunstwerken auf dunkel bespannten Tafeln, um diese „Pathosformeln“ freizulegen. Die Kunst betrachtete er gleichsam als Datenbank dieser Formen.

Im schonenden Dämmerlicht der Berliner Gemäldegalerie lassen sich einige von Warburgs Beweisstücke in Augenschein nehmen, die ihm als Vorlage dienten. Die im Schrei verzerrten Gesichter oder die flatternden Faltenwürfe in Andrea Mantegnas 1450 entstandenen Kupferstich der „Grablegung Christi“ waren ihm solche Pathosformeln.

Aber auch, wie verblüffend sich die Nierenformen ähnelten, mit denen sowohl die Etrusker wie die Hethiter ihre Skulpturen verzierten. Die Geschichte der zwei Völker trennt sechs 6 Jahrhunderte.

Das Revolutionäre war nun, dass Warburg nicht die Originale nebeneinander hing, sondern Reproduktionen. Diese kontrastierte er mit Bildern aus dem Alltag: Ausschnitten aus Zeitungen, Reklamebildern, Fotofunden, in denen er das Nachleben der Pathosformeln zu sehen glaubte.

Eine Universalenzyklopädie von 63 Tafeln mit insgesamt 971 Bildern schwebte ihm vor. Zwar gab es schon im Mittelalter Bilderatlanten, die Fürsten damals ordneten ihre Kunstsammlungen ähnlich. Doch erst Warburg begann mit dieser assoziativen Ikonologie.

Wer Warburgs Projekt nicht kennt, tut sich vielleicht etwas schwer,  die Bezüge zwischen den Bildern auf den Tafeln auf Anhieb zu durchschauen. Aber er versteht sofort die Methode des visuellen Vergleichs. Dieses Operierens in visuellen Clusterns stellt eine Art Urknall der Bildwissenschaft und des „Iconic Turn“ dar – dem gefürchteten Umschlagpunkt, wo sich die sprachliche auf die visuelle Information, das Wort auf das Bild, „das Argument auf das Video“ verlagert, wie es der deutsche Kunsthistoriker Gottfried Boehm einmal definierte.

Das Echo dieses Denkens in beweglichen Bildkonstellationen war nicht nur in Werken wie der, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erschienenen „Encyclopédie photographique de l’art“des französischen KünstlersAndré Vigneau oder in André Malraux‘ ähnlich bebildertem Essay „Musee Imaginaire von 1947 zu spüren.

Dieses Echo ließe sich auch in einem Werk wie „Album III“ des kanadischen Künstlers Luis Jacob aufspüren, der zu Beginn der Zweitausender Jahre mit Bildern aus diversesten Medien und Kulturen etwa der Maske als Chiffre des Körpers nachgeht. Seinen vorläufigen Höhepunkt findet Warburgs Methode freilich in den Bewegtbild-Plattformen wie Instagram, Youtube und der Meme- Kultur gefunden.

Ob man sich von Google einen „Bilderatlas“ zu einem bestimmten Stichwort ausspucken lässt. Ob Geheimdienstchefin „M“ alias Judy Dench im neuesten James Bond auf einer transparenten Wand mit wie von Zauberhand herbeizitierten Bildern forensische Spuren sichert. Nie schienen Warburgs Vokabeln von den „Bilderfahrzeugen“ und den „Wanderstraßen der Kultur“ zutreffender als heute.

Zugleich wurde Warburgs Bilderatlas aber auch zur Geburtsstunde eines Prinzips, das der Kurator Kirk Varnedoe 1990 in der legendären Ausstellung „High & Low“ im New Yorker Museum of Modern Art gleichsam zum kulturellen Paradigma erhoben hatte: Das hierarchielose Nebeneinander von Moderner Kunst und Trivialkultur.

Besonders frappierend lässt sich das an der Tafel 77 von Warburgs Atlas nachvollziehen. Das Foto einer Münze aus Syrakus, das die Göttin Nike zeigt, hängt da neben einem Bild des „hygienisch unübertroffenen“ Toilettenpapiers „Hausfee“ aus dem Deutschland der 20er Jahre, für das die Göttin Viktoria wirbt.  

Heute sind derlei Assemblagen gängige Praxis, seinerzeit waren sie heftig umstritten. „Für die einen hat Warburg die Kunstgeschichte erfunden, für die anderen hat er sie zerstört. Man hat seine Methode Verrücktheit und Genie genannt“ beschreibt Bill Sherman, der Direktor des Londoner Warburgs Instituts, den Ruf des Privatgelehrten, der nie als regelrechter Wissenschaftler gelehrt hatte.

1933, vier Jahre nach Warburgs Tod gelang es, sämtliche 60000 Bände seiner Bibliothek nach London zu verfrachten. Heute beherbergt das Institut eine Fotosammlung von rund 400000 Bildern. Aus diesem Basislager fischten die Kuratoren Robert Ohrt und Axel Heil die knapp 1000 originalen Bilder Warburgs, um seinen Atlas zu rekonstruieren.

Neben der bestechenden Vorstellung eines humanen Bildgedächtnisses fasziniert an Warburgs Kosmos die Idee, dass sich die ewige Form als unwandelbare Konstante durch die Zeiten zieht. In dem »Universum der Formen«, das er und seine Nachfolger aufriefen, meint man, eine geheimen Wirkmacht der Geschichte zu erkennen.

Doch die Fantasie des Überzeitlichen trügt. Schließlich ist die Form nicht ewig, sondern Resultante sozialer Beziehungen. Ein und dieselbe Linie deuten unterschiedliche Kulturen zudem völlig anders.

In der documenta 12 bewunderten die Besucher beispielsweise den Gesichtsschleier einer Braut aus Tadschikistan aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Feld um den Sehschlitz ist auf das Filigranste mit archaischen Formen, mit Sternen und Rhomben aus kostbarer Seide bestickt. Symbolisiert es das Tor zum Kosmos oder das zur Hölle? Die schönste Form kann manchmal ganz schön grausam sein.