Istanbuls wiedergewählter Bürgermeister Ekrem İmamoğlu startet eine historische Kunst- und Kulturpolitik am Bosporus

Ekrem İmamoğlu strahlte. Wahlkampf-Kalkül war natürlich dabei, als Istanbuls Bürgermeister sich Anfang März, kurz vor der Kommunalwahl, in einer historischen Schiffswert vor Gentile Bellinis Porträt von Sultan Mehmed aus dem Jahr 1480 ablichten ließ, dem Mann, der 1453 Konstantinopel eroberte.  

„Ich kann auch Sultan“ war das symbolpolitische Signal, das İmamoğlu mit dem Foto aussandte. In Vergessenheit geriet bei dem Blitz-Termin dessen kulturhistorische Bedeutung.

Schließlich hatte der Mann, den viele schon als künftigen Präsidenten der Türkei sehen, gerade das erste öffentliche Kunstmuseum der Stadt Istanbul eröffnet: Istanbul Sanat Müzesi – ein erstklassig renovierter Steinbau mit Ausstellungshallen, Bibliothek, Café, Museumshop und einem „Performance-Center“, direkt unter der Brücke zum Goldenen Horn.

300 Werke hingen in der Eröffnungsausstellung „Ah, Schönes Istanbul“ – darunter Leihgaben eines gewissen Kunstsammlers namens Ekrem İmamoğlu.

Schon vor zwei Jahren hatte die Istanbuler Galerie Beylikdüzü eine Auswahl der 400 Werke-Sammlung des passionierten Kunstliebhabers gezeigt. İmamoğlu sammelt querfeldein: Von der Grafik bis zur Skulptur, von der feministischen Ikone Fahrelnissa Zeid bis zum AI-Shooting-Star Refik Anadol.

Jedenfalls: Selbst Kenner der Istanbuler Kunstszene rieben sich ob der überraschenden Eröffnung des neuen Museums die Augen.

Die Kulturoffensive, die Istanbuls Stadtverwaltung (IBB) gerade am Bosporus inszeniert, ist eine echte Sensation. Wann hörte man zuletzt in Deutschland von Politikern den Satz: „Kultur ist die Lokomotive, die mich treibt“? Und İmamoğlus öffentlich intoniertes Bekenntnis ist mehr als ein Wahlkampfslogan.

Neben dem neuen Kunstmuseum hat die IBB seit dem Amtsantritt des charismatischen Menschenfängers vor fünf Jahren 17 neue Kulturinstitutionen eröffnet. Unglaubliche 28 weitere sollen folgen.

Das Istanbul Sanat war der vorläufige, spektakuläre Höhepunkt. Begonnen hatte es bereits 2022 mit dem Müze Gazhane, einer alten Gasfabrik in Kadıköy und im Juni 2023 mit dem Müze Feshane, einer alten osmanischen Fez-Fabrik im ultrakonservativen Stadtteil Eyüp.

Bei der Eröffnung hatte es noch laustarke Proteste von frommen Muslimen gegen die dort gezeigte, moderne Kunst gegeben. Jetzt posieren junge Frauen in Leggins und Kopftuch in der Schau „The Dynamic Eye: Beyond Op and Kinetic Art“ der Londoner Tate Modern vor Alexander Calders Mobiles.

Ähnlich begeistert reagieren die Besucher auf die Çubuklu Silolar. Die restaurierten Open-Air-Silos eines ehemaligen Erdöllagers im Stadtteil Beykoz, direkt am Ufer des Bosporus, beherbergen zum Auftakt neun cutting-edge-Werke der letzten Linzer Ars Electronica.

Im Bulgur Palas, einer seit Jahrzehnten verfallenen Villa, die der italienische Architekt Giulio Mongeri 1912 für den Bulgur Händler Mehmet Habib Bey im konservativen Fatih gebaut hatte, zeigt die Foto-Agentur Magnum eine große Schau. Auf der Dachterrasse mit atemberaubenden Ausblick auf das Marmarameer umrunden die Besucher:innen ein Panorama des historischen Istanbul.

Mit den neu eröffneten Häusern sichert die Stadt Istanbul vorbildlich das kulturelle Erbe der Stadt, das bislang regelmäßig der obsessiven Bauwut zum Opfer fiel. Sie funktionieren aber nicht nur als Sehenswürdigkeiten und White Cubes, sondern auch als soziokulturelle Zentren für die Nachbarschaft, wo Stadtteilgruppen Projekte lancieren können.

Ob sie die, auch in Istanbul immer rasantere Gentrifizierung beschleunigen, wird sich zeigen. Die nach öffentlichen Orten hungernde, kritische Szene fragt eher nach dem Budget für die Hanes und wer das Programm bestimmen darf.

Begeistert sind aber alle über deren Clou: Neben der Kunst sind sie mit hochmodernen, stilvoll ausgestatteten Bibliotheken ausgestattet, in die jedermann/frau unangemeldet spazieren, den Laptop auspacken und arbeiten kann. Auch an vielen der frequentierten „Iskelesi“, den Fähranlegern am Bosporus, hat die Stadt Buchläden eröffnet. 

Einerseits hat der neue Museumsboom der Stadt den heilsamen Effekt, dass die, sehr vom Geschmack ihrer großbürgerlichen Besitzer geprägten Privat-Museen wie das Istanbul Modern der Eczacıbaşıs oder das Kunstmuseum Arter der Koçs Konkurrenz bekommen.

Doch die „hidden agenda“ hinter der, für türkische Verhältnisse beispiellosen Kulturpolitik ist eine Re-Säkularisierung via Kultur gegen die schleichende Islamisierung. Anders gesagt: Erdoğan baut Moscheen, İmamoğlu Museen, Museen für Alle. Sie könnten zum Nukleus einer neuen liberalen Öffentlichkeit werden.

„Seit 14 Jahren sind wir an der Macht, aber wir haben immer noch Probleme im kulturellen Feld“, hatte Präsident Erdoğan vor ein paar Jahren vor der islamischen Ensar-Stiftung geklagt.

Auf diese wunde Stelle seines Widersachers zielt İmamoğlus Kulturrevolution am Bosporus. Mit ihr tritt er in die Fußstapfen von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, dessen berühmte Sentenz: „Eine Nation ohne Kunst ist eine Nation, die ihre Lebensadern verloren hat“ er beständig zitiert.

Auch dessen Republik ging aus einer Kulturrevolution hervor. Wenn İmamoğlus Neuauflage greift, dürfte sich Recep Tayyip Erdoğan an der Kultur weiterhin die Zähne ausbeißen.