Dialog mit den Tieren der Stadt im Coronozän

Schwarz-grau gefleckt, den Kopf leicht nach unten geneigt. Ich war gerade auf dem Weg zum Supermarkt, als ich plötzlich diese Krähe auf dem Dach der parkenden roten Limousine sitzen sah. Krähe, genau. Eines dieser Exemplare aus der Familie der Rabenvögel, die im Hinterhof neuerdings Mülltüten zerlegen. Sie plusterte sich auf, rutschte mit ihren Klauen auf dem spiegelglatten Dach nach vorne. Und zwar so selbstverständlich, als sei ich derjenige, der sich zu erklären hätte.

Auch als ich näherkam, machte der Vogel keine Anstalten, seine Flügel auszubreiten und zu verschwinden. Diesen Ritus der Distanznahme beherzigen selbst die Spatzen, die meinen Balkon als Boxenstopp bei ihren Sturzflügen durch die urbanen Schluchten nutzen, obwohl sie spätestens seit dem Tag keinen Feind mehr in mir erkennen, an dem ich eine stets mit frischem Wasser gefüllte Schale auf den Tisch gestellt hatte, in der sie ausgiebig baden können.

Einen Moment fühlte ich mich wie Tippi Hedren in Hitchcocks „Die Vögel“, als sie einer Schar der Lufteroberer zu entkommen sucht, die sich um ihr Wochenendhaus gesammelt haben. Schließlich besann ich mich, stellte meine Taschen ab und sah ihr fest ins Auge. So wie man einen Tiger im Ansprung mutig anschauen soll, um ihn zu beeindrucken. Sie zuckte mit keinem Schlag ihres hornigen Lids.

Ich war seltsam angefasst von meiner klammheimlichen Furcht vor einem Vogel, der kaum halb so groß wie mein Kopf war. Aber auch konsterniert von dieser Schrecksekunde interspezieller Fremdheit. So sieht es also aus, wenn man mit der Kreatur auf Augenhöhe ist: Lauern und ein Ozean des Nicht-Verstehens. Benommen schlich ich weiter. Als ich mich umdrehte, sah auch mir die Krähe nach.

Seit Beginn des Coronozäns, so die Sage, sollen die Tiere wieder die Kontrolle über die Zivilisation übernommen haben. Das war natürlich romantischer Unsinn. Mit Ausnahme der Herde wilder Kaschmir-Schafe vielleicht, die das walisische Seebad Llandudno geentert hatten. Aber die Delfine, die wieder durch Venedigs Kanäle oder durch den Bosporus tollten, waren Memes.

An das neue Reich der Tiere glaube ich erst, wenn ich Delfine im Landwehrkanal sehe, Katzen auf der Admiralbrücke Musik machen und die Ameisen Wahlrecht haben. Doch irgendwie war die Fauna schon anders präsent. Lag es nur am fehlenden Autolärm oder schickten die Vögel, die mich im Morgengrauen immer wecken, ihre Zwitscherwolken selbstbewusster als sonst in den Äther?

Bei meinen mitternächtlichen Spaziergängen passierte ich immer eine Pappelgruppe am Rande eines Bolzplatzes, in der sich Nachtigallen einen Arien-Disput lieferten. Und wie angewurzelt blieb ich stehen, als ich auf der Brücke über den Ausläufern des Gleisdreieck-Parks plötzlich das nebelhornähnliche Staccato einer Eule zu hören meinte.

Auch wenn ich sie nicht verstand: Tiere schienen mir in diesen Tagen die ungefährlicheren Date-Partner. Sie brachten mir eine gewisse Zuneigung entgegen, ohne mir gefährlich nahe zu kommen. Nicht alle verstanden meine Annäherungsversuche. Der Fuchs, den ich nachts neben einer Elektroauto-Ladestation dabei traf, wie er sein Terrain scannte, trollte sich indigniert, als ich mit über den Kopf gezogenen Hoodie vor ihm auf die Knie ging wie vor 46 Jahren Joseph Beuys vor einem Koyoten in New York.

Zur wahren Freundin wurde mir die braun gemusterte Hauskatze, die vor dem geöffneten Fenster einer Erdgeschoßwohnung saß und mich jede Nacht mit großen grünen Augen erwartete. #safethedate flüsterte ich ihr zu. Neugierig schnupperte sie an mir, wandte den Kopf und verschwand hinter den wehenden Gardinen in das rötlich schimmernde Boudoir dahinter. Hinter mir rauschte eine leere S-Bahn durch die Nacht.

Neue Solidaritätskampagne für Osman Kavala

Was hat er denn bloß getan? Die rhetorische Frage wirft auf, wer besonders nachdrücklich sagen will, dass jemand zu Unrecht einer Straftat bezichtigt wird. Die jüngste Solidaritätskampagne für den inhaftierten türkischen Mäzen und Philanthropen Osman Kavala mit diesem Titel zu überschreiben, ist mehr als naheliegend. Schließlich haben schon Gerichte in der Türkei festgestellt, dass er sich nichts zu Schulden hat kommen lassen.

Mittlerweile sitzt der 1957 in Paris geborene Sohn einer türkischen Industriellenfamilie seit fast 1000 Tagen im berüchtigten Gefängnis von Silivri. Die 2008 eröffnete Justizvollzugsanstalt, einer der größten Gefängniskomplexe Europas, rund 70 Kilometer entfernt von Istanbul, fungiert als der Ort, in dem Gegner des türkischen Regimes arretiert werden.

Neben dem „Welt“-Journalisten Deniz Yücel, der dort von 2017 bis 2018 festsaß, sind dort schon seit 2016 auch Ahmet Altan, der bekannte Schriftsteller und Chefredakteur der Zeitung „Taraf“ oder seit 2018 Eren Erdem, ein Politiker der oppositionellen CH-Partei inhaftiert. Mittlerweile sitzen in Silivri weit mehr als die 10000 Gefangene ein, für die der Komplex konzipiert ist.

Osman Kavala ist einer der wichtigsten Förderer der türkischen Zivilgesellschaft. Mit seiner Stiftung „Anadolu Kültür“ mit Sitz in Istanbul und im kurdischen Diyarbakir unterstützt er vor allem kulturelle Projekte. In Istanbul unterhält er zudem den Projektraum „Depo“, einer Kombination aus Ausstellungshalle und Menschenrechtszentrum.

Präsident Recep Tayyip Erdogan war der „rote Millionär“ schon lange ein Dorn im Auge. Der türkische Despot wirft ihm vor, die Proteste im Istanbuler Gezi-Park 2013 orchestriert zu haben sowie am Putschversuch vom 15. Juli 2016 beteiligt gewesen zu sein. Deswegen ließ er ihn 2017 bei der Rückkehr von einem gemeinsamen Projekt mit dem deutschen Goethe-Institut verhaften. Für beide Behauptungen gibt es bis heute keinerlei Belege. 

Wegen dieser Sachlage entschied im Herbst 2019 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, Kavala müsse sofort freigelassen werden. Die Urteile des Hofs sind für die Türkei eigentlich bindend. Als daraufhin ein türkisches Gericht anordnete, Kavala frei zu lassen, schob die Justiz im Land flugs einen Spionagevorwurf nach. Seitdem muss Kavala weiter in Silivri brummen.

Der Europaabgeordnete Nacho Sánches Amor, Türkeiberichterstatter des Europäischen Parlaments, nannte während eines internationalen Zoom-Meetings Ende April, bei dem Freunde und Unterstützer*Innen Kavalas über das weitere Vorgehen berieten, den Fall einen „Lackmustest“ für das Land. 

Zusammen mit dem Filmemacher Fatih Akin hatte Shermin Langhoff, die Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, während der Online-Beratung eine Kampagne angekündigt, die seit Mitte letzter Woche nun über alle Social-Media Kanäle flimmert. „Artists United for Osman Kavala“ nennt sich die Community, die das internationale Bewusstsein für den Fall weiter schärfen will.

Unter dem Motto „What did Kavala do? – Was hat Kavala getan?“ veranschaulichen Künstler, Politiker und Vertreter der Zivilgesellschaft in täglichen Videobotschaften Kavalas Hingabe an Kultur und soziale Kooperation und seine Rolle für die Zivilgesellschaft in der Türkei.  

„Ich wünschte, es gäbe mehr Osman Kavals auf der Welt“ lobt der türkische Schriftsteller und Komponist Zülfü Livaneli seinen Freund Osman Kavala. Für Edzard Reuter, Ex-Daimler-Chef und Türkei-Freund, sitzt Osman Kavala nur im Gefängnis sitzt, weil er „eine andere Meinung hat als sein Präsident“. Die schwedische Diplomatin Andrea Karlsson lobte Kavalas einzigartige „Fusion von Kunst, Aktivismus, Menschenrechten und Demokratie“.

Langhoff und Akin heben Kavals „moralischen Mut“ und den „Glauben an Kunst als Möglichkeit für Begegnungen und Dialoge“ hervor. „Er ist unser Vorbild. Wir werden nicht aufhören, bis er frei ist“. Schwer zu sagen, ob ihre Botschaft die politisch Verantwortlichen erreicht. Außenamts-Staatsminister Michael Roth Forderung „das EMGR-Urteil sofort umzusetzen“ hat das Regime in Ankara wenig beeindruckt.

Mehr Druck bei dem Ringen um das Schicksal Osman Kavalas wollen nun auch internationale Intellektueller machen. Eine Gruppe um den US-Linguisten Noam Chomsky, den französischen Philosophen Étienne Balibar und den Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Dimitris Papadimoulis, hat den Mäzen für den Vaclav-Havel-Preis für Menschenrechte vorgeschlagen.

Der alljährlich von der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rats vergebene Preis soll am 12. Oktober in Strasburg vergeben werden. Noch ist es schwer vorstellbar, dass Kavala den Preis dort persönlich entgegen nehmen wird können.