Sozialdistanz: In der Corona-Krise kann man Solidarität auch verlernen

„Bitte halten Sie Abstand. Damit wir uns bald wieder nah sein können“. So oder ähnlich lauten die Warnhinweise überall auf der Welt derzeit. Und wenn sie nicht so drängend konkrete Gründe hätten, könnte man derlei Slogans für ein grandioses Experiment in höherer Dialektik halten, so wie die Menschheit gerade auf ein Paradox eingeschworen wird: Füreinander einzustehen, ohne sich dabei begegnen zu können.

Gut, Solidarität drückt sich nicht immer in körperlicher Nähe aus. Sozialer Beistand kann auch bei räumlichem Abstand geleistet werden. Unser Sozialstaat ist institutionalisierte Solidarität. Und der berühmte Generationenvertrag, der ihm zu Grunde liegt, ist ein Abstraktum und kein massenhaft absolvierter Rütlischwur unter freiem Himmel.  

Trotzdem wuchs Solidarität aus dem Zusammenschluss realer Körper, der gerichteten Kraft assoziierter Individuen. Vom Sturm auf die Bastille bis zum Arabischen Frühling. Auch wenn sie inzwischen Rituale sind.

Die Maidemonstrationen, die an die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts erinnern, können die Video-Solidaritätsadressen nicht ersetzen, die heute selbst bei revolutionären Protestversammlungen gang und gebe sind. Keine Kunst, keine Kultur, keine Solidarität ohne volle Säle, ohne Menschen, die sich auf die Pelle rücken.

Ob die Corona-Krise den Neoliberalismus gekillt haben mag, wie jetzt überall gejubelt wird, wird sich zeigen. Immerhin hat sie das Dogma des deregulierten Staates ad absurdum geführt. Unübersehbar hat sie deutlich gemacht, dass Solidarität heute etwas ist, worauf alle angewiesen sind.

Sie ist ein Paradebeispiel für dieses langsame Wiedererwachen eines Gefühls wechselseitiger Abhängigkeit: Von den Gabenstellen für Obdachlose bis zu den Einkaufsdiensten für betagte NachbarInnen. 

Ganz neu ist das nicht: Die Renaissance der neuen Solidarräume, die schon in den letzten Jahren zu erleben war, reklamiert diese freilich nicht nur als Idee. Die neuen Genossenschaften, Lerngruppen und urbanen Kooperativen – wollen diese Räume immer mit realen Menschen füllen, nicht nur eine coole App draus machen.  

Sieht man davon ab, dass Abstand halten ein soziales Privileg ist. Nicht jede New Yorker Krankenschwester kann sich in ihr Landhaus in den Hamptons zurückziehen. Es stimmt natürlich trotzdem: Abstand halten rettet Leben, Abstand halten schafft Zusammenhalt.

Die Appelle von Krankenschwestern und ÄrztInnen aus Italien erinnern schmerzlich daran. Und die Balkonkonzerte in Italien und anderswo zeigen: Es lässt sich auch über Distanz soziale Nähe herstellen.

Das freilich wäre das richtige Wort. Denn nur die physische Distanz schützt vor Ansteckung. Aber auf diese Nähe, die erst Gemeinschaft schafft, wollen wir gerade jetzt nicht verzichten. Sie erst gibt uns das Gefühl, dass wir nicht ganz alleine auf der Welt sind.

Genies der Selbstisolation wie Nietzsche und Hölderlin, die in der Krise plötzlich zu Prototypen der Quarantäne-Ära stilisiert werden, sind in Wahrheit eine wenig nachahmenswerte Ausnahme. Die Sozialdistanz, die sie praktizierten, war ja mehr traumatisch als prophetisch.

Unter diesem Stichwort wird jetzt eine zwiespältige habituelle Praxis eingeübt. Nicht nur weil mit dem Begriff auch das neoliberale Ideal der Selbstsozialisation aufgerufen wird, für das, frei nach Margaret Thatcher, „no such thing as society“ existiert.

Sie prägt eben auch das Verhalten. Mensch erschrickt bei mehr als zwei Personen auf der Straße, schreckt zurück, wenn jemand die Tür offenhält, geht auf Abstand, sobald sich jemand nähert. Vorsicht und Misstrauen dem unmittelbaren Gegenüber, so notwendig sie eine Zeit lang auch sein mögen, werden zur Gewohnheit.

Doch was passiert mit Menschen, die ihre Sozialkontakte wochenlang um 97, 98 Prozent herunterfahren? Die Menschenketten gegen den neuen Faschismus nur noch online bilden dürfen? Was mit Menschen, die auf ein Verhalten „ohne jede Form von Gruppenbildung“ konditioniert werden? So lautet das amtliche Berliner Distanzgebot.

Was, wenn es nach der Krise heißt: „Zu Kurz Gekommene Aller Länder, Vereinigt Euch“. Sich dann aber niemand mehr richtig solidarisieren kann? Weil kaum noch einer weiß, wie es geht?

„Distanz ist die erste Bürgerpflicht“ verklärte eine deutsche Tageszeitung eine epidemiologische Vorsichtsmaßnahme zum kategorischen Imperativ.

Je länger der Ausnahmezustand namens „Sozialdistanz“ dauert, desto größer auch die Gefahr, dass die Nah- und Kollektiverfahrung Solidarität auf der Strecke bleibt. In Zeiten der Krise lernt der Mensch. Wir erleben es gerade. Er kann aber auch viel verlernen.  

Der Mythos ist beschädigt. Wohin geht die documenta?

203 Porträtfotos an einer Wand: Nazi-Größen wie Goebbels und Goering hängen neben unbekannten Flakhelfern oder dem Künstler Joseph Beuys. Vor drei Jahren provozierte Piotr Uklanskis Arbeit „Real Nazis“ die Besucher der documenta in Kassels Neuer Galerie mit der Frage: Welche waren eigentlich die wirklichen Nazis? Die großen Schergen oder auch die unbekannten Mitläufer?

Nachgerade wirkt Uklanskis Werk prophetisch. Denn jetzt hat diese Frage die Weltkunstschau selbst eingeholt. Waren etwa einige der documenta-Gründerväter etwa „real“ Nazis?

Begonnen hatte alles Anfang 2019. In einer Fußnote des Katalogs der Schau „Emil Nolde – Der Künstler im Nationalsozialismus“ in Berlins Hamburger Bahnhof hatte Kurator Bernhard Fulda, Historiker in Cambridge, erstmals auf die NSDAP-Mitgliedschaft Werner Haftmanns hingewiesen. Der Kunsthistoriker war der wichtigste Berater von documenta-Gründer Arnold Bode während der ersten drei Ausstellungen.

Wenige Monate später verschärften Fulda und die Kunsthistorikerin Julia Friedrich vom Museum Ludwig ihre kritische Sicht der „grauen Eminenz“ der documenta auf einer Konferenz des Deutschen Historischen Museums (DHM) zur „Politischen Geschichte der documenta“. Sie verwiesen auf einen Aufsatz Haftmanns in der NS-Zeitschrift „Kunst der Nation“, in dem dieser den Nazis 1934 den Expressionismus als von „deutscher Art“ anpries.

Nach 1945 verbuchte er ihn als Medium europäischer Verflechtung. Den Nazi-Sympathisanten und Antisemiten Emil Nolde adelte Haftmann zu einem der inneren Emigranten, die sich im Dritten Reich angeblich wie die „Lilie vom Felde“ nährten.

Dass die politische Vergangenheit der documenta-Gründergeneration erst jetzt entdeckt wurde, stellt dem Kunstbetrieb in Deutschland ein Armutszeugnis aus.  Die NS-Nähe von documenta-Protagonisten der ersten Stunde wie Hermann Matern, Herbert von Buttlar oder Alfred Hentzen war schon länger bekannt.

Auch zu Haftmann gab es seit den siebziger Jahren Hinweise. Zu einer systematischen Durchleuchtung bequemte sich die deutsche Kunstgeschichte aber nicht, geschweige denn zu einem Diskurs.  

Die Enthüllungen markieren eine unerwartete neue Etappe deutscher Vergangenheitsbewältigung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzte dieser Tage eine Historiker-Kommission ein, um die NS-Kontinuitäten im Bundespräsidialamt zu untersuchen. Ein Hobbyhistoriker enttarnte Alfred Bauer, den Gründungsdirektor der Berlinale, als alten Nazi. Jetzt haben die braunen Schatten auch die documenta eingeholt.

Im Licht der jüngsten Erkenntnisse erscheint das Selbstverständnis der Schau als Gestalt gewordener Beweis deutscher Umkehr, als Flaggschiff des besseren Deutschland, als Motor der Wiedergutmachung gegenüber Verfemten, „Entarteten“ und der Moderne schal. Denn das documenta-Narrativ war auch ein taktisches Kalkül zur Selbstreinwaschung, Verschleierung und zur Abwehr der Vergangenheit.

Mag sich die documenta auch zu einer Schau der kritischen Weltsicht entwickelt haben. Der Mythos der documenta gründete immer auf der ethischen und ästhetischen Integrität ihrer Gründer. Nun ist er beschädigt.

Die jetzigen Enthüllungen treffen die Schau zur denkbar ungünstigen Zeit. Die Diskussion darum wird nicht nur die Arbeit des Kuratoren-Kollektivs Ruangrupa überschatten. Nach den Querelen um die documenta 14 sollte die Weltkunstschau eigentlich in eine neue Phase starten.

Mit einer neuen „documenta-Professorin“, der Übernahme des documenta-Archivs, einem neuen, mit sechs Millionen Euro üppig alimentierten „documenta-Institut“ und dem neu besetzten Fridericianum, wächst das früher bescheidene documenta-Büro zu einem ästhetisch-bürokratischen Komplex mit einer „Generaldirektorin“ an der Spitze, der sein Eigengewicht gegenüber der eigentlichen Schau entwickeln dürfte. Nun muss sie sich auch noch mit ein paar alten Nazis herumschlagen.   

In der Zangenbewegung zwischen Institutionalisierung und Historisierung hilft der documenta nur die Offensive. Ihre Erfolgsgeschichte sichert sie, wenn sie ihre Geschichte kritisch aufarbeitet. Diese Selbstbefragung sollte sie von sich aus anstoßen. Sie ist nämlich keine historiographische Pflichtübung, sondern eine eminent politische Aufgabe.

Die documenta kann sie weder an die Ausstellung zur documenta-Geschichte des DHM delegieren, die im Frühjahr 2021 eröffnen soll, noch an das documenta-Institut.  Der Superlativ „Weltkunstschau“ verpflichtet. Zusammen mit Zeitzeugen, Künstlern und Wissenschaftlern muss die documenta eine breite öffentliche Debatte anstoßen.

In Zeiten des grassierenden Rechtsextremismus wäre sie ein Zeichen dafür, dass sie die Frage nach dessen Ursachen ernst nimmt. Je rascher sie beginnt, desto besser.

Netflix-Serie „The Crown“: Das Drama der Machtlosigkeit

„Ich verstehe“. Den Satz sagt Queen Elisabeth immer dann, wenn sie mehr ahnt, als versteht. Aber so tun muss, als ob. Wenn ihr der Premierminister eine internationale Krise ankündigt, eine drohende Kabinettsintrige. Oder wenn ihr Privatsekretär ihr vorsichtig beibringen muss, dass Prinz Philipp in eine delikate Affäre verwickelt ist, die das Königshaus und die royale Ehe kompromittieren könnte. Sie strafft den Rücken, rückt den Kopf gerade und nimmt Haltung an wie ein energischer Wellensittich.

Wenn jemand eine Möglichkeit gesucht hätte, der britischen Monarchie den Todesstoß zu verpassen. Die Pose erhabener Ratlosigkeit, in die sich Regisseur Stephen Daldry Ihre Majestät Königin Elisabeth II. alias Claire Foy alias Olivia Colman in Peter Morgans Netflix-Seifenoper „The Crown“ retten lässt, wäre eine solche. Diese Königin wider Willen wirkt wie die Karikatur von Lenins Diktum, dass jede Köchin in der Lage sein müsse, die Staatsmacht auszuüben.

Folge um Folge bestätigt die überaus erfolgreiche Serie unser Vorurteil von dem englischen Königshaus als skurriles Paralleluniversum mit defizitärer Führungskompetenz. Während Großbritannien durch eine schwere Wirtschaftskrise taumelt, ist die Königin mehr an der Innovation ihres eigenen Unternehmens interessiert.

Mit ihrem Busenfreund und Stallmeister, dem 7. Earl von Carnavaron, genannt „Porchey“, verschwindet sie auf eine „fact-finding-mission“ in Sachen Pferdezucht nach Frankreich und in die USA. Und als 1957 die Suez-Krise ausbricht, beschäftigt sie vor allem das Foto einer Ballerina, welches sie in einer Reisetasche ihres Mannes gefunden hat. So konsequent wie sie auf die Binnenperspektive setzt, zeigt „The Crown“ die Welt, vom Palast aus, gesehen.

Als Elisabeth 1953 gekrönt wurde, durfte der sublime Moment der Salbung mit dem heiligen Öl, von dem es im Buckingham Palast noch einen Rest geben soll, den Augen der Gäste in der Westminster Abbey mit einem Baldachin entzogen. In der Serie erscheint dieses göttliche Institut aber als durchaus anfällig für irdische Untugenden. Wie die Hohenzollern haben auch die Windsors in Gestalt Ihres eitlen Protagonisten, dem abgedankten König Eduard VIII., mehr als nur mit den Nazis geliebäugelt.

Die Binnenperspektive sagt auch etwas aus über die eingeschränkte Wahrnehmung der Macht. Wie viele Tage dauert es, bis Elisabeth begreift, dass sie auf das schwere Bergwerksunglück 1966 im walisischen Aberfan mit einem raschen Besuch hätte reagieren müssen? Mag sie auch als PR-Coup eingefädelt worden sein. Angesichts dieser Geburtsfehler des Palastlebens gewinnt der Exit von Harry und Meghan Sussex aus dem royalen Wahrnehmungsgefängnis den Charakter einer exemplarischen Befreiungstat.

„The Crown“ ist freilich auch eine melancholische Entwarnung vor der Renaissance der Willkür des Gottesgnadentums. Entrollt sich doch vor unseren Augen das Drama des Machtverlustes – bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der symbolischen Oberhoheit.

„Wir sind Marionetten geworden“ beklagt Queen Mom Elisabeth mit verbitterter Miene den schleichenden Tod der Monarchie, kurz bevor ihre Tochter nach Lord Altrinchams geharnischter Kritik  an ihren entrückten öffentlichen Auftritten 1957 das Ruder herumreißt, zum ersten Mal eine Weihnachtsansprache im Fernsehen hält, zum ersten Bürgerempfang in Buckingham Palace einlädt und sich im Schlosshof Klempner und StudienrätInnen zum Small-Talk mit den beiden gekrönten Häuptern aufreihen.

Elisabeth ist so klug, sich in das Unvermeidliche zu fügen: „Wir schauen tatenlos zu und warten bis sich das Volk entscheidet“, weist die Queen ihren geschockten Onkel Lord Mountbatten zurecht, als der sich mit dem Gedanken trägt, an die Spitze einer Verschwörung gegen die immer unbeliebtere Labour-Regierung von Harold Wilson zu treten, die ihn als Militärchef geschasst hat. „Wir haben gelernt, keine Stimme zu haben“.

Ganz schmerzlos geht das freilich auch bei einem Zwangscharakter nicht ab, der von Kindesbeinen in der Sekundärtugend „It’s our duty“ gedrillt wurde. Es gibt einen Moment in „The Crown“, in dem Elisabeth, nachdem sie ihren ersten, geliebten Premierminister Winston Churchill auf dem Totenbett besucht hat, wehmütig eine Gruppe von Wählern ansieht, die sich aus sicherer Entfernung zu ihrem mit Chauffeur gefahrenen Auto an ihrem örtlichen Wahllokal anstellen.

Sie ist die mächtigste Person des Landes. Auch wenn diese „Macht“, frei nach Georg Friedrich Wilhelm Hegel nur darin besteht, der Idiot zu sein, der einem, bis zum letzten Komma von außen diktierten Inhalt den zeremoniellen Segen des „Dies ist mein Wille. So sei es!“ verleiht. Und doch bleibt ihr eines verweigert, das ihren Untertanen Macht verleiht: die Abstimmung.

Trotz dieses kritischen Subtextes kommt die Serie zur rechten Zeit. So wie sie royalistische Sehnsüchte bedient. Nicht zufällig auch zu Zeiten, wo die demokratischen und egalitären Konditionen der Demokratie geringgeschätzt werden und zu implodieren drohen. In Zeiten des allgemeinen Kollapses bevorzugt die Seele nun mal das Stabile.

In Deutschland ist es die Schizophrenie eines Hohenzollernschlosses, das dem postkolonialen Dialog gewidmet sein soll. In Großbritannien ist es die liebevolle Annäherung an die poröse Form der Sandburg einer überforderten Familie, die oft nur mehr von einem sehr dünnen Hosenbandorden zusammengehalten wird.

Da schaut mensch auch schon einmal über den Sarkasmus hinweg, dass zu Zeiten sozialer Exklusion, beruflicher Deklassierung und verweigerter Diversität in „The Crown“ unentwegt Bürgerliche, adlige und gekrönte Weiße darüber klagen, wie sie unter ihren Privilegien, an ihrer luxuriös gepolsterten Ohnmacht leiden und wie sehr sie ein anderes Leben anstreben. Selbst ein klassenbewusster Arbeiter in der Labour-Hochburg im mittelenglischen Bassetlaw dürfte Mitleid mit Prinzessin Margarets gescheiterter Flucht in die Bohème empfinden.

Mit der Qualität des cineastischen Handwerks oder dem Schlafzimmerblick des jungen Prinz Philipp allein lässt sich die enorme Bindewirkung der Serie nicht erklären. So hölzern sind Dialoge und Szenenführung gestrickt.

Die Schlüssellochperspektive ist durch die zeitgenössische Yellow Press mehr als ausgereizt. Wirklich aufregend Neues über die Essgewohnheiten der Queen, ihre Corgies oder das Liebesleben von Prinzessin Margaret hat sie nicht wirklich zu bieten.

Der immense Erfolg rührt von der Strategie der Intimisierung. Von den Liebes- und Lebensbedingungen der gewählten Politiker wissen wir inzwischen fast weniger als von denen der Royal Family.

Und wie könnte den Massen das Seelengift des Royalen besser injiziert werden als durch die Szene, in der die Königliche Familie im Wohnzimmer von Buckingham-Palace gemeinsam vor dem Fernseher der Mondlandung entgegenfiebert oder die Queen sich morgens die Marmeladebrötchen am Frühstückstisch selbst schmiert?

In Szenen wie dieser schnurrt Ernst Kantorowiczs erhabenes Dogma von den zwei Körpern des Königs auf die Faustregel des singulären royalen Couchpotato zusammen.

So gesehen ist „The Crown“ auch eine moderne Version des Sissy-Syndroms. Einerseits bietet sie eine fantastische Spiegelfläche für die Opfer eines prämodernen double-bind: Der Verhaltensanomalie, sich für die Zuwendung, die mensch durch huldvoll gehauchte Banalitäten zu erfahren meint, mit untertänig zurück geheuchelter Zuneigung zu bedanken.

Die Monarchie als Ritual folgenloser Aufmerksamkeit und symbolischer Kompensation erodierender Solidarität nach einer schier endlosen Tory-Dekade mit seinem exzessiven Sozialabbau. Der Labour-Slogan „For the many, not for the few” bezog seinen anfänglichen Erfolg nicht nur aus der Empörung über diese soziale Schieflage, sondern auch aus der emotionalen Unterversorgung in der neuen britischen Klassengesellschaft.

Mag sie mit 30 Folgen auch das Geheimnis und den Mythos gründlich zerstören, aus dem das Institut des Königtums seine Magie bezieht. So gründlich leuchtet sie das Arkanum aus.

In Zeiten raubeiniger Autokraten bedient die Serie die Sehnsucht nach dem unschuldigen Herrscher, nach der Liebhaberin im Machtgewand, nach der Königin der Herzen.

In der Monarchie, sei sie auch äußerlich mit dem Makel belastet, eine Bande anachronistischer GreisInnen in verstaubten Staatsroben zu sein, schlummert der Wunsch nach der organischen Legitimität. Nach einer, von Abstimmungen und Konfliktritualen ungetrübten Einheit des Staatskörpers.

So gesehen ist „The Crown“ ein Oxymoron: Symptom des prädemokratischen Regresses und – in dem sie die Legitimitätsfrage stellt – zugleich eine Warnung davor.