Vorbereitung der documenta 15 in Kassel: Von Kunst wird eigentlich kaum gesprochen

„Vergessen Sie für einen Moment mal die Kunst“. Der Satz rutschte Farid Rakun, einem der Gründungsmitglieder des indonesischen Kuratorinnen-Kollektivs ruangrupa so heraus, als er sich Ende letzten Jahres mit Journalisten über die kommende documenta unterhielt. Dennoch wirkt er wie eine Metapher für die 15. Ausgabe der Weltkunstschau, die am 18. Juni 2022 in Kassel eröffnen soll. Denn wenn etwas an den Entwicklungen im Vorfeld auffällt, dann ist es die Abwesenheit dieser Vokabel.

Wahlweise zerbrechen sich die Beobachterinnen der Schau den Kopf oder sie machen ihre Witze über das schöne Wort „lumbung“ – die berühmte Reisscheune, die vom konkreten, gemeinschaftlichen Speicherort für die Ernte in Südostasien inzwischen zu einem Synonym für das ersehnte Revival der Sozialressource Solidarität avanciert ist. Doch über Kunst im engeren oder weiteren Sinne spricht in Kassel kaum jemand.

Zu Beginn war dies der Pandemie geschuldet. Seit April dieses Jahres versucht nun das zwischen Indonesien und Deutschland gesplittete Kurator:innen-Kollektiv mit der digitalen Gesprächsserie „lumbung calling“ auf die Schau vorzubereiten. In den Gesprächen von Jumana Emil Abboud und Mirwan Andan mit internationalen Gästen zu Stichworte wie „Lokale Verankerung“, „Humor“, „Unabhängigkeit“, „Großzügigkeit“ oder „Transparenz“. Was das alles mit Kunst zu tun hat, war in den Gesprächen aber bestenfalls zu erahnen.

Ein Echo fanden diese Gespräche so wenig wie der Protest des „Instituto de Artivismo Hannah Arendt (Instar)“ gegen die Repressionen der kubanischen Regierung gegen Protestierende. Das kubanische Kollektiv um die Aktivistin Tania Bruguera ist „lumbung-Member“ der documenta fifteen. Auch das ins Sustainability-Mantra der Zeit passsende Symposium über nachhaltige Materialkreisläufe im Kunstbetrieb, zu dem Mitte Juli knapp 30 Initiativen nach Kassel kamen, hinterließ keine nennenswerten Spuren im öffentlichen Bewusstsein.

Und wie sich die insgesamt fünfzehn Kollektive vom Britto Arts Trust in Bangladesh bis zum Wajukuu Arts Project in Kenia, die das künstlerische Team als weitere lumbung-Member eingeladen hat, konkret in die Arbeit einbringen, ist im Dunkeln geblieben.

Mit ihrem „lumbung“-Ansatz könnte die documenta zum Katalysator einer Neuausrichtung des Kunstbetriebs unter dem Stichwort der Commons, der Gemeingüter, werden. Aber ob sich das aus dem undurchschaubaren Treiben allerlei Nachbarschafts-Initiativen entwickelt, das derzeit in dem, im bunten Design des Studierendenkollektivs Studio 2oo4 aus Jakarta geschmückten „ruru-Haus“ mit Mini-Garten, Regentonne und sogar einem eigenen documenta-Bier vor sich hin wuselt? Im Juli 2021 ging dort ein nationalkritisches „FussBallaBalla“ über die Bühne. Man vermisst einen Hinweis darauf, wie sich der ökosoziale Ansatz, den ruangrupa verfolgt, in eine ästhetische Dimension transformiert werden soll.

Neun Monate vor der Eröffnung fehlt der documenta erkennbar ein diskursiver Hallraum. Was in Kassel diskutiert oder vorbereitet wird, hat andernorts kein Echo. Zum selben Zeitpunkt gab es bei Carolyn Christov-Bakargievs d13 oder Adam Szymczyks d14 längst fette Debatten. Auch einen Verlag für die Publikationen der documenta fifteen gibt es noch nicht.

Kein Wunder also, dass der Streit um die NS-Vergangenheit dieses Vakuum füllte. Der Kölner Historiker Carlo Gentile hatte herausgefunden, dass Werner Haftmann an Partisanen-Erschießungen teilgenommen hatte, der Soziologe Heinz Bude, Gründungs-Direktor des neuen documenta-Instituts, und die Autorin Karin Wieland hatten seine SA-Mitgliedschaft aufgedeckt. „documenta – Politik und Kunst“ – die aktuelle Ausstellung des Deutschen Historischen Museums hatte weitere unschöne Details präsentiert.

So bleibt Beobachtenden derzeit nur documenta-Astrologie: Die kürzliche Nachricht, das aufgegebene Areal der Bahntechnik-Firma Hübner und das leerstehende Hallenbad Ost zu Standorten der Schau zu machen, könnte eine symbolische Hinwendung zur Peripherie bedeuten. Was dort zu sehen sein wird, lässt sich aber erst beurteilen, wenn Anfang Oktober die Namen der 53 Künstler:innen bekannt gegeben werden.

Diese Namen über die Kasseler Obdachlosenzeitung „Asphalt“ veröffentlichen zu lassen, war immerhin ein Coup, mit dem es dem Kurator:innenkollektiv gelang, die klassische Aufmerksamkeitsökonomie von Kunst-Großaustellungen zu unterlaufen, bei der meist in großen Medieninszenierungen die Namen einer staunenden Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.

Und auch die Tatsache, dass Künstler:innen wie Graziele Kunsch, Jimmy Durham oder Pinar Ögrenci jeweils „majelis“ – kleinere oder größere Arbeitsgruppen – zugeordnet werden, um dort durch „Ressourcenteilung und gemeinsame Entscheidungsfindung“ künstlerische Arbeitsweisen oder Produkte zu entwickeln, die zur Zeit noch nicht feststehen, zielt in diesselbe Richtung.

Immerhin: Die insgesamt geringere Zahl von Teilnehmenden signalisiert, dass sich die Kunstwelt auf eine bescheidenere Schau einstellen muss, die aufgrund der Sicherheits- und Hygienebestimmungen umständlicher zu absolvieren sein dürfte.

Dass die documenta bereit ist, sich deswegen von dem olympischen Grundsatz des „citius, altius fortius – schneller, höher, weiter“ zu verabschieden, der sie bisher antrieb, wie es Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) Anfang Juli formulierte, als die Aufsichtsgremien entschieden, die documenta trotz der Pandemie nicht zu verschieben, muss kein Nachteil für eine Schau sein, die in dem Ruf einer Cash-Cow des nordhessischen Standortmarketing steht und deren Sinnkrise sich nach den NS-Enthüllungen verschärft hat.

Bislang deutet allerdings wenig darauf hin, dass sie ihre sympathische Wende zum „Degrowth“ mit einem Mehr an Qualität kompensieren will.