Abgrundtiefe Verzweiflung nicht nur bei den Künstler:innen in der Türkei nach 2023 den Präsidentschaftswahlen

„Ich weine wie verrückt“. Der Tweet, den die Pop-Diva Sezen Aksu am Tag nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in der Türkei absetzte, brachte die Lage auf den Punkt: Abgrundtiefe Verzweiflung unter den Kulturschaffenden. Monatelange Mobilisierung und Dauerpräsenz in den Sozialen Medien hatten nichts genutzt.

Die unverbrüchliche Treue der ländlich-konservativen Klientel zu ihrem Idol Erdoğan kann sich die Kuratorin Övül Ö. Durmusoglu, eine der intelligentesten zeitgenössischen Kurator:innen mit türkischem Hintergrund, nur noch mit dem Stockholm-Syndrom erklären: Der schizophrenen Liebe der Gepeinigten zu ihren Peinigern.

Nach dem Sieg im Zweiten Wahlgang schälen sich zwei Fraktionen in der türkischen Kultur- und Intellektuellenszene heraus: Die Zweckoptimisten wie Güneş Duru. „Wir wussten, dass es nicht leicht werden würde“ beschwichtigt der Musiker und Dozent an der Istanbuler Mimar Sinan-Kunstuniversität.

Die Essayistin Ece Temelkuran versucht, die Niederlage in ein Misstrauensvotum gegen Erdoğan umdeuten. Sie verweist auf die gute Hälfte des Landes, die ihm im ersten Wahlgang die Unterstützung verweigert hat. Durchhalten und weiterkämpfen ist ihre Devise. Auf Dauer werde Erdoğan nicht durchalten können.

„Egal, ob wir gewinnen oder verlieren“ sagt Asena Günal, Geschäftsführerin der Kulturorganisation Anadolu Kültür, „wir werden immer so weiterarbeiten, als stünden wir am Anfang des Weges“. Günals Chef, der seit über 4 Jahren inhaftierte Kunstmäzen Osman Kavala, dessen Freilassung Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CH-Partei versprochen hatte, kann seine Hoffnung darauf nun ebenso begraben wie Selahattin Demirtaş, der Ex-Chef der kurdischen HD-Partei, der im Gefängnis zum Schriftsteller wurde.

Nach dem Sieg Erdoğans müssen sich Künstler und Intellektuelle darauf gefasst machen, dass der gestärkte Präsident die Daumenschrauben bei allen anziehen wird, die sich in der Euphorie des Wahlkampfs kritisch geäußert hatten. Charakteristisch war die Reaktion des bekannten türkischen Komponisten FazılSay.

Hatte der im Wahlkampf Stimmung für die Opposition gemacht, gab er hernach konsterniert eine Entschuldigung zu Protokoll. Er wolle in Zukunft nur noch „die Musik sprechen lassen und ansonsten „schweigen“. Zwar hat die türkische Zivilgesellschaft im Allgemeinen und die Kunstszene im Besonderen in 20 Jahren Herrschaft Erdoğan eine staunenswerte Resilienz bewiesen.

Auf die werden sie sich auch in den nächsten fünf Jahren verlassen müssen.

Aber selbst eine hartgesottene Erdoğan-Gegnerin wie die 1942 geborene Kuratorin Beral Madra, die 1987 die 1. Istanbul-Biennale kuratiert hatte, bekennt nun: „Ich habe Angst“.

Zuletzt gab es mit Neugründungen in Bursa, Ankara und Izmir sogar einen kleinen Boom kritischer Artspaces. Dennoch dürfte sich der Exodus von Künstler:innen, Akademiker- und Ärzt:innen aus dem Land beschleunigen. Schon jetzt beherbergt Berlin die zweitgrößte türkische Kunstcommunity der Welt nach Istanbul. Seit ein paar Jahren wohnt bereits Gülsün Karamustafa, deren Grande Dame, in Berlin-Prenzlauer Berg.

Zwar rühmte sich Erdoğan kurz vor der Wahl damit, 164 Museen in der Türkei renoviert zu haben. Und am 19. Mai lud er sich zum „Tag der Jugend und des Sports“ selbst in das von Star Architekt Renzo Piano neu erbaute und Anfang Mai unauffällig eröffnete Kunstmuseum Istanbul Modern der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı ein. C

lanchef Bülent Eczacıbaşı und seine Frau Oya, die Direktorin des Museums, säkulare Kunstfreunde bis ins Mark, saßen mit versteinertem Gesicht in der ersten Reihe. Eine Kulturrevolte gegen die Moderne, die er sonst gern mit Hassreden überzieht, war Erdoğans Ansprache zum „Tag der Jugend und des Sports“ nicht. Ausgeschlossen, dass sich unter dem neualten Dauerpotentaten eine liberale, öffentliche Kulturpolitik entwickeln könnte wie sie Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu derzeit durchsetzt.

Eher dürfte die Islamisierung des Landes weitergehen. Verstärkt durch den nationalistischen dip dalga (silent wave) der auch zwei islamistische Splitterparteien erstmals ins Parlament beförderte. Eine deutsch-kurdische Künstlerin war sich sicher: „Mit diesem Ergebnis ist die Türkei auf dem Weg zum zweiten Iran“.