Zwischen Repression und Selbstbehauptung: Kunst in der Türkei 2022

„Wir werden ihre Zungen herausschneiden. Wir werden ihre Köpfe zermalmen“. Recep Tayyip Erdoğan war nicht zimperlich. Als sich die Pop-Sängerin Sezen Aksu im Sommer in einem Song über den Propheten Adam lustig machte, drohte der türkische Präsident mit körperlicher Vergeltung.

Der Mob, der sich nach der Drohung vor dem Haus der Diva der türkischen Musik zusammenrottete, bekam Aksus Zunge zwar nicht. Der Vorfall markierte freilich die Spielräume der Kunst am Bosporus.

Gemessen an der Drohkulisse, die Erdoğan ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2023, dem symbolischen 100. Jahr der Republikgründung, aufbaut, grenzte es an ein kleines Wunder, dass Mitte September die Istanbul-Biennale überhaupt ihre Pforten öffnen konnte.

Die 1987 gegründete Kunstschau ist zwar kein Hort des politischen Widerstandes. Schließlich verdankt sie ihre Existenz dem Mäzenatentum der schwerreichen Unternehmerfamilie Eczacıbaşı und deren Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV). Sie setzt jedoch immer wieder kritische Akzente.

2004 nahmen die Kuratoren Vasif Kortun und Charles Esche auf der 8. Biennale die Gentrifizierung in Istanbul ins Visier, 2013 öffnete die kürzlich verstorbene Fulya Erdemci ihre Biennale den Gezi-Protesten. 2017 kuratierte gar das offen schwule Künstlerduo Elmgreen & Dragset die Biennale.

Offene Kritik an den immer repressiveren Verhältnissen finden sich auf der gerade eröffneten, 17. Biennale nicht. Die Zeiten dafür sind vorbei. Doch wer die Zeichen zu lesen verstand, kam auch hier auf seine gesellschaftskritischen Kosten.

Ob es nun die Gezi-Slogans auf den Flaggen der Gruppenperformance des indonesischen Künstlers Arahmaiani waren oder die Funde aus dem 1990 gegründeten Frauenarchiv der Stadt Istanbul, die die Künstlerinnen Merve Elveren und Çağla Özbek in diversen Artspaces ausgebreitet hatten.

Letztlich war auch die Entscheidung von Ute Meta Bauer, Amar Kanwar und David Teh, den Kurato:innen der Biennale, auf eine spektakuläre Großausstellung zu verzichten und die Biennale auf zwölf der Istanbuler Artspaces zu verteilen, ein Versuch, die lokale und internationale Szene zu vernetzen.

Obwohl zunehmend unter Druck sind Kunst und Kultur in der Türkei aber immer noch die Domäne der kritischen Intelligenz, wie selbst Präsident Erdoğan vor ein paar Jahren zähneknirschend zugeben musste.

Seine 2018 lancierte Gegenoffensive in Gestalt der „Yeditepe-Biennale“ für die traditionellen Künste wie Kalligraphie oder Teppichknüpfen, fand jedoch wenig Anklang.  

Und wie um zu demonstrieren, dass die unabhängige Kunst nicht aufgibt, geriet die Eröffnungswoche der Biennale zur unerklärten Demonstration der Stärke dieser Szene.

Von einer Revue der türkischen Performancekunst der 90er Jahre im Kunsthaus Salt bis zur feministischen Schau „Mis(s)placed Woman?“ in Osman Kavalas – noch nicht geschlossenen – Artspace Depo reichte die unübersehbare Anzahl von Eröffnungen.

Selbst der 2017 aus dem Amt als Chef des avantgardistischen Kunstverbunds „Salt“ gedrängte Vasif Kortun kuratierte dort eine kleinee Schau der israelischen Künstlerin Nira Pereg zu Sicherheit und Kontrolle im öffentlichen Raum.

Für ein Land, dessen Regierung regelmäßig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln lässt, war es zudem ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli in ihrem Skulpturenpark die Plexiglas-Statue eines Kindes aufstellte, das eine Regenbogenfahne im Wind bläht.

Die türkische Kunstszene laviert derzeit in einem Patt zwischen Repression und Selbstbehauptung, dessen Ausgang offen ist. Auf der einen Seite lauert Erdoğan. Auf der anderen Seite sichern die großen Industriellenfamilien wie Koç oder Sabancı mit ihren Privatmuseen der Kunst Räume.

Denen folgt neuerdings die Stadt Istanbul. Das stillgelegte Gaswerk „Müze Gazhane“ im liberalen Stadtteil Kadiköy, einer der Standorte der Biennale, ist eines von sechs neuen, in der Türkei beispiellosen, öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CH-Partei der Kunst neue Wirkräume sichern will.

Mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen verfolgten Beobachter deshalb eine unerwartete Annäherung. Schon auf dem Empfang der IKSV in Venedig zur Eröffnung des türkischen Pavillons durfte mit Mehmet Ersoy erstmals ein Kulturminister der herzlich verhassten AKP-Regierung eine Rede halten. Zur Eröffnung der Biennale hängte IKSV-Chef Bülent Eczacıbaşı gar Ersoys Stellvertreterin Özgül Yavuz eine Verdienstmedaille um. Man fragt sich wofür.

Ob AKP und IKSV wissen, auf was sie sich da einlassen? Zum Portfolio der Stiftung gehören neben der Biennale, einem Film, Jazz- und Theaterfestival auch eines für die Musik. Jahrein, jahraus singen hier die Zungen, die Präsident Erdoğan den Künstler:innen gern herausreißen würde.

Business as usual im Kunstbetrieb? Wie soll es nach der documenta fifteen mit Biennalen und Großausstellungen weitergehen?

„Nach der documenta ist vor der documenta“. Christian Geselle, Kassels immer etwas hemdsärmeliger Oberbürgermeister, gab sich salopp, als er Ende September offiziell die documenta fifteen beschloss und zugleich den Termin für die 16. Ausgabe der Schau im Juni 2027 bekanntgab.

Natürlich musste er beizeiten jeden Zweifel zerstreuen, dass es mit der documenta aus sei, wie es während der umstrittenen Schau immer wieder ultimativ gefordert worden war. Was wäre Kassel ohne die Cashcow und unerschöpfliche Quelle symbolischen Kapitals, documenta?

Doch ist das business as usual-Zeichen, das der SPD-Politiker damit gab, das richtige Signal für die Zukunft? Noch ist der Schock, der Kassel selbst für die Fans der d15 bedeutete, nicht verdaut, da legt sich die Szene schon in die nächsten Schleifen des Kunstloops von Bangkok bis Riga – the show must schließlich go on.

Dabei könnte der Kunstbetrieb eine kurze Pause für eine Debatte gut vertragen: Zum Beispiel über das Ethos des Kuratierens. Gesprächsbedarf sehen auch die Anhänger:innen des dezentralen, antiautoritären, kollektiven, fast möchte man sagen: besinnungslosen Ansatz des Ausstellungsmachens a la ruangrupa.

Oder die „Decolonize“-Fraktion, die doch zweifelte, ob die Schockästhetik, mit der Kader Attia den Ahnungslosen seine kolonialismuskritische Lektion bei der 12. Berlin-Biennale ins Hirn hämmern wollte, nicht das genaue Gegenteil bewirkt. Diese Debatte ist umso angezeigter, weil das Kunstjahr 2022 eine markante Zweiteilung des Kunstbetriebs offenbart hat.

Die documenta fifteen, aber auch ihre Miniatur-Version in Gestalt der 17. Istanbul-Biennale haben, sieht man einmal von den antisemitischen Kollateralschäden in Kassel ab, eine „postautonome Kunst“ (Wolfgang Ullrich) nobilitiert, die zwar schon länger en vogue ist, in dieser Massivität aber bislang noch nicht auftrat beziehungsweise derart prominent vorgestellt wurde.

Das alte adornitische Ideal der Kunst, die ihren Kontext und ihr Material auratisch übersteigt, spielt bei den Kollektiven und Verbünden, die dort reüssierten, kaum noch eine Rolle. Eine „Entkunstung“ (Harald Kimpel) bedeutet das aber noch nicht.

Vielmehr markiert das eine Epoche, die als sozial engagierte Hybridästhetik in die Kunstgeschichte eingehen könnte. Werner Schmalenbachs sturköpfige Weigerung seinerzeit, Joseph Beuys, dem Ahnherrn dieser Richtung, in die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen einziehen zu lassen, hat sich bekanntlich als ähnlicher Irrtum erwiesen.

Die Kollektive, die seine soziale Plastik nun vollenden, sind nicht so sehr das Problem. Sie als Untergang des Abendlandes der Kunst zu dämonisieren, wie Bazon Brock in seiner hanebüchenen Philippika gegen die d15, geht selbst an der europäischen Kunstgeschichte meilenweit vorbei.

Ihre Spur zieht sich von Friedrich Schleiermachers „Bund von Freunden“ über die Nazarener in Rom, von Dada bis zu den Guerilla Girls. Und das Geburtsrecht der Freiheit der Kunst für die europäische Aufklärung kann nur reklamieren, wer sich noch nie der Kunst und Kultur des Globalen Südens befasst hat.

Das Problem ist, wie und ob (ästhetische) Kollektive ihr Handeln transparent machen. Das Mandat für Wohlfahrt, Emanzipation und Aufklärung, welches sie für sich beanspruchen, entbindet sie nicht von der Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit. Wie dem nachzukommen wäre, wird noch zu diskutieren sein.

Schon um einen Rückfall ins Autoritäre zu verhindern, der auch hinter den Rufen nach einem Durchgreifen der Politik lauert. Und nach dem endgültigen Bericht der documenta-„Expert:innenkommision“ wieder zu hören sein wird.

Doch dieser Ansatz steht nun ziemlich beziehungslos neben dem des klassischen Ausstellungsmachens, wie ihn auch Cecilia Alemani mit „The Milk of Dreams“ in Venedig oder Tim Fellrath und Sam Bardaouil mit ihrem „manifesto of fragility“ in Lyon zelebrierten.

In beiden Fällen agierten noch die allwissenden Kurator:innen, die die Dinge ordnen, die Narrative konstruieren und das ganz große Rad der opulenten Mega-Schau drehen. Es hat etwas folgenlos Rhetorisches, an eine Gesamtheit zu appellieren, die bei näherer Betrachtung in unzählige Partikel zerfällt.

Dennoch sollte dieses Schisma, selbst wenn es kurzfristig kaum aufzulösen ist, „der Kunstwelt“ (die es so homogen nicht gibt) eine leidenschaftliche Debatte auch darüber wert sein, was und ob diese beiden Sphären noch etwas verbindet. Der nächsten documenta, auf die sich Christan Geselle schon so freut, kann das nur nutzen.