Olaf Scholz oder die Pathologie des Politischen

Der Lockenschopf. Das war früher das Erkennungszeichen von Olaf Scholz. Wann immer der freche Juso aus Hamburg im Bundesvorstand der Jusos oder auf ihren turbulenten Bundesdelegiertenversammlungen auftauchte, war er schnell zu erkennen an seiner verwuschelten Haartracht. Die auch ein Symbol für seine politische Unberechenbarkeit war. Und für die verschlungenen Wege, die er einschlug, um an sein politisches Ziel zu kommen.

Kaum tauchte er auf, verbreitete sich nervöse Unruhe im Saal. Entweder wegen der Intrigen und Bündnisse, die dann geschmiedet wurden oder längst besiegelt waren. Wegen der ironischen Bemerkungen, die er verspritzte wie feinste Dosen unmerklich wirkenden Gifts. Oder wegen der Debatten, die er Backstage anzettelte, während sich vorne am Rednerpult die Gralsritter der Doppelstrategie noch dabei abwechselten, graues Recyclingpapier durch den Floskelkopierer zu schieben.

Dass Olaf Scholz keine Locken mehr hat, wird man ihm nicht vorwerfen können. Wenn das nicht einen Rollenwechsel signalisierte. Wo Ole von Beust, der flamboyant gelockte Großbürger und Scholz‘ Vorgänger als Hamburger Bürgermeister, sich und seinen konservativen Stammwähler so sehr öffnete, dass sie Schwarz-Grün feierten und ihm selbst eine gleichgeschlechtliche Liaison nicht übelnahmen, versteinerte der libertäre Stamokapler Scholz zu einem Opfer des somatischen Disziplinarregimes, als das Politik eben auch immer wirkt: Streng, glattgeschliffen, floskelbewehrt: „Wer von mir Führung verlangt, bekommt sie auch“ trumpfte er als Bürgermeisterkandidat an der Elbe auf. Auch dieses politische Urgestein schrumpfte nach vier finessenreichen Dekaden auf das für den sozialistischen Nachwuchs vorgesehene Format: Ein Kiesel im Malstrom der Demokratie.

Der berüchtigte Scholzomat eben. Was neben der rhetorischen Stanze auch meinte: Ein Mann, der sich selbst unter totaler Kontrolle und alle juristischen Regularien sofort bei der Hand hat. Höchstens noch bei Hintergrundgesprächen “unter vier” ironisch gluckst. Ein Mann, für den Fantasie offenbar ein Fremdwort ist. Sein Auftritt im Cum-Ex-Ausschuss demonstrierte, dass er es in Sachen Elefantenhaut und Pokerface mit dem republikanischen Polit-Reptil Mitch McConnell aufnehmen kann.

Dem man seinen Satz: “In Hamburg habe ich mich unsterblich in meine Frau verliebt” nicht recht abnehmen will, so maskenstarr er hinter dem heraufgedrehten Seitenfenster seiner Limousine ins Leere starrt. Kurzum: Ein Mann wie sein eigener Dienstwagen. Als Bundeskanzler fährt er passenderweise jetzt ein neues, besonderes sicheres Exemplar, das schussfeste Reifen hat, Sprengladungen oder einer Kalaschnikow trotzen soll.

Dass Olaf Scholz nach den Hamburger Jahren im blauen Business-Panzer nun den obersten Knopf seines blütenweißen Hemdes Gen-Gurion-mäßig aufgeknöpft hat und Respekt fordert, mag für eine Öffnung halten, wer will. Warum er sich im Laufe seiner politischen Karriere immer mehr geschlossen hat, hat er uns nie anvertraut. Dabei wäre es wichtig, diesem politsomatischen Kipp-Punkt auf die Spur zu kommen. Schon, um Kevin Kühnert oder Annalena Baerbock vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.

Aber die Pathologie des Politischen reicht tief, bleibt begraben im Geheimnis. Stumm schlägt sie sich im Körper nieder, im Habitus. Die fröhliche Angela Merkel der Wendezeit panzerte sich, wie der von ihr auf’s Altenteil geschickte Helmut Kohl, mit Leibesfülle und undurchdringlichen Zügen ins Matronenhafte. Nicht umsonst hat Franziska Giffey, die Weltmeisterin der scheinoffenen Fröhlichkeit, ihre 50er-Jahre-American-Suburb-Kostüme einmal ihre „Uniform“ genannt.

Fast liest sich da angesichts der vestimentären Selbst-Wappnung unseres politischen Personals die schaurige Zapfenstreich-Formel „Helm ab zum Gebet“ wie ein revolutionärer Slogan. Es gehört zu den Malaisen der politischen Kultur hierzulande, die Verhärtung der politischen Körper, die Verwandlung zum emotionsbefreiten Roboter als deren unausweichliche Nebenwirkung zu akzeptieren, statt sie als Krisenindiz zu thematisieren.

Eines der wenigen Gegenbeispiele lebt Claudia Roth, die frisch gebackene, grüne Kulturstaatsministerin. Die Goldparmäne des Widerborstigen stieg aus einem ähnlich politischen Milieu nach oben wie Scholz. Ohne dabei etwas von ihrer subversiven Energie und ihrem eruptiven Temperament zu verlieren. Mag sie heute auch noch so elegant und bourgeoisiekompatibel auf dem Grünen Hügel in Bayreuth auftauchen.

Repräsentiert Roth gleichsam den stets ausbruchsbereiten Vesuv des progressiven Lagers, wirkt der oft versteinert daherkommende Scholz wie dessen Pompeij: Das wilde Leben, das hier einst stattgefunden haben mag, ist nur noch durch eine Schicht erkalteter Sedimente zu erkennen.

Nun ist Graumäusigkeit der ästhetische Wesenskern der Demokratie. Und dürfte die Stimmung der „normalen, einfachen Menschen“, die Scholz kürzlich beschwor, eher treffen als die sarkastische Exzentrik Wowereit’schen Angedenkens. Wenn sich mit der steifen Gradlinigkeit und der hölzernen Rhetorik, mit der sich Scholz seinen Weg durch die Fußgängerzonen, Plenarsäle und Seniorenheime bahnt, nicht zugleich eine gewisse Friedhofsruhe breit machen würde.

Der Neukanzler sprach in seiner Regierungserklärung von einer „gigantischen Aufgabe“. Trotzdem heißt Berlin im Winter 2021: Kein Diskurs, nirgends. Und diese hermetische Mischung aus Führen durch Einschläfern wird nun als Erfolgsmodell verkauft. Gegen den „denkenden Redner“ Willy Brandt, den der Verleger Klaus Wagenbach einst bewunderte, wirkt sein Enkel, der auf den roten Wahlkampfplakaten kurz und bündig „Respekt“ verspricht, wie ein wortkarger Buddha.

Um die in ungewöhnlich großer Zahl ins Parlament gelangte Parteilinke zu zügeln, hat er ein paar soziale Wohltaten aufgetischt, um die Stammwähler zurückzuholen, die Hartz4 vergraulte. Den Koalitionspartnern hat er bedeutet, dass Wende-Essentials wie das Tempolimit oder das Wohnungseigentum nicht zur Debatte stehen.

Der Chef der Sozialdemokraten „im Hintergrund“ tritt auf wie eine Mischung aus dem „leitenden Angestellten“, als den sein Vorgänger Helmut Schmidt den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland GmbH einmal beschrieben hat, und dem fürsorglichem Belagerer aus dem Job-Center. Habituell gesehen repräsentiert Scholz das fleischgewordene Adenauer-Motto: Keine Experimente. Doch der Aufbruch zu einer anderen Gesellschaft kommt in einem anderen Körper daher.

Kunst als Feigenblatt: Anmerkungen zur Diriyah-Biennale in Saudi-Arabien

Lassen sich mit Biennalen Gerechtigkeit und Demokratie befördern? Sieht man einmal von dem Kunstmessen-Abkömmling Venedig ab, befeuert diese geheime Hoffnung die rapide Biennalisierung der zeitgenössischen Kunstwelt in den letzten zwanzig Jahren von Gwangju bis Istanbul. Dürfen wir uns also auch Hoffnungen für das konservative Saudi-Arabien machen? Dort startete am Wochenende die erste Ausgabe dieses Erfolgsformats in der Hauptstadt Riad.

Diriyah-Biennale nennt sich diese Premiere nach einem, für seine traditionellen Lehmbauten bekannten Vorort Riads. Das klingt kulturbewusst, ist aber politische Strategie. Promotet wird die Biennale nämlich als „Eckstein“ der „Vision 2030“, die Kronprinz Mohammed bin Salman, der wahre Machthaber in dem religiösen Wüstenstaat, 2016 ausrief.

Die Idee dahinter: Kunst und Kultur sollen das Land unabhängig vom Erdöl machen. Eine neue „Unterhaltungs“-Behörde wurde mit einem Etat von 2 Milliarden Dollar ausgestattet. Der vierzig Jahre alte Kino-Bann wurde aufgehoben, Frauen durften erstmals Sport-Veranstaltungen besuchen, Pop-Konzerte mit Mariah Carey, David Guetta und Enrique Iglesias folgten.

Formal firmiert die Ad-Diriyah Stiftung, die die Biennale ausrichtet, als „Non-Profit-Organisation“. Ihr Etat kommt jedoch vom Kulturministerium, ihr präsidiert mit Prinz Badr bin Farhan al Saud der Kulturminister des Landes. Als CEO der Biennale fungiert Aya Al-Bakree, eine junge Kommunikationsexpertin, deren Familie Beobachter zu der loyalen Business-Elite Saudi-Arabiens zählen.

2022 soll eine Biennale für die Islamischen Künste folgen. Als Kurator für die Biennale konnten die Saudis einen diktaturgeprüften Kurator gewinnen: Den amerikanischen Kunsthistoriker Philip Tinari, seit 2011 Chef des Zentrums für Zeitgenössische Kunst in Peking (UCCA).

„Crossing the water and feeling the stones“ – Tinaris Slogan, der im China der 1980er Jahre den Geist der Transformation des Landes beschrieb, passt denn auch haarscharf zur Lage auf der Arabischen Halbinsel.

Ob sie es wollen, wissen oder nicht. Mit ihrer Teilnahme helfen die 64 eingeladenen Künstler:innen, ein Land reinzuwaschen, dessen politische und soziale Realität mit den hehren Zielen der Vision 2030 und dem Ziel der Biennale, den „kreativen Ausdruck“ zu fördern, nicht viel zu tun hat.

In Saudi-Arabien gelten Menschenrechte nur solange sie der Scharia nicht widersprechen. Eine Verhaftungswelle traf 2017 Hunderte Menschen- und Frauenrechtler:innen. 2019 wurden fünf Männer wegen homosexueller Handlungen öffentlich geköpft. Das Land hat den Jemen mit einem blutigen Krieg überzogen. Und der königliche Schirmherr der Künste wird persönlich für den 2018 mit einer Kettensäge ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi verantwortlich gemacht.

Verständlich, dass sich Künstler:innen angesichts der Pandemie die wenigen Auftritte nicht entgehen lassen wollen. Wahrscheinlich deswegen ist Justin Bieber den Rufen nicht gefolgt, seinen Auftritt im Kulturprogramm der Formel-Eins-Premiere in Dschidda, noch einem Leuchtturm der Vision 2030, abzusagen. Nur der britische Rennfahrer Lewis Hamilton nannte die Zustände dort „absolut furchterregend“ und bestritt das Rennen mit einem Regenbogenhelm.

Es geht nicht um Boykott oder Canceln, aber gerade diese Biennale verdiente einen Streit zum Verhältnis von Kunst und Politik. Verstörend, dass von der sonst so gerechtigkeitssensiblen Kunstwelt bislang kein kritisches Wort zu ihr zu vernehmen war. Wie rechtfertigen der Bildhauer Wolfgang Laib, der Filmemacher Lawrence Lek und der Installationskünstler Timur Si-Qin, die als Künstler aus Deutschland in Riad gelistet sind, ihre Teilnahme an dem Event?