Die Politische Geschichte der documenta im Deutschen Historischen Museum

Eine Ausstellung über die Geschichte der documenta. Als Raphael Gross, der frischgebackene Direktor des Deutschen Historischen Museums (DHM), Ende 2017 ankündigte, eine Ausstellung über die Geschichte der documenta veranstalten zu wollen, ging das noch im allgemeinen Betriebsrauschen unter. Die Begründung des Schweizer Historikers und ehemaligen Direktors des Jüdischen Museums in Frankfurt damals klang freilich so naheliegend, dass man sich wunderte, warum der Kunstbetrieb nicht selbst darauf gekommen war.

Schließlich sei die documenta, so Gross in einem Gespräch, eine Schau, die in Deutschland zu einer Zeit entstanden sei, wo man versuchte, „sich neu zu orientieren in der Welt gegenüber Kaltem Krieg, gegenüber der sozialistischen Kunst, gegenüber der ‚Entarteten Kunst‘-Verdammung durch den Nationalsozialismus“. Welche Sprengkraft der Plan entwickeln sollte, zeigt sich dann knappe zwei Jahre später. Auf einer vorbereitenden Tagung des DHM im Berliner Zeughaus Ende Oktober 2019 wurde durch Recherchen der Cambridger und Kölner Kunsthistoriker*Innen Bernhard Fulda und Julia Friedrich einer größeren Öffentlichkeit erstmals bekannt, dass Werner Haftmann, Arnold Bodes wichtigster Mitarbeiter bei der Schau, von 1937 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen war. Eine große öffentliche Debatte war die Folge.

Seitdem wächst die Neugier über die Konzeption der Ausstellung. Für Gross ist die documenta deshalb interessant, weil man ihr in Fünfjahresschritten „die Chronologie einer politisch-ästhetischen Geschichte der Bundesrepublik erzählen“ könne. Diese Chronologie soll die Ausstellung entlang dreier Vektoren nachvollziehen: Dem Verhältnis der documenta zur NS-Zeit, zum Kalten Krieg und zur DDR und zum Westen. Dazu will Gross möglichst viele der Original-Kunst-Installationen der einzelnen documenta-Ausgaben „in Bezug setzen zu den Objekten des Museums, die die Zeitphänomene illustrieren, auf die sich die Kunst bezieht“.

Von dieser Gegenüberstellung verspricht sich der DHM-Direktor, der gerade auch die neue Dauerausstellung des DHM konzipiert, Aufschluss über die Frage, wie man mit Kunstwerken generell in einem historischen Museum umgeht. Zur Sammlung des DHM gehören nämlich auch sehr viele Kunstwerke. Natürlich versteht sich die Ausstellung in kritischer Absicht: Gross will „sehen, ob sich die Dinge, die man sich gern über die documenta ausdenkt und erzählt, mit dem übereinstimmen, was wir dann in den Archiven finden“.

Für dieses Vorgehen setzt der DHM-Direktor bei seinem Projekt nicht auf die sattsam bekannten Namen des internationalen Kuratoren-Karussells oder documenta-Insider. Mit der Zeithistorikerin Dorothee Wierling, der Kunst-Wissenschaftshistorikerin und ehemaligen FAZ-Kunstredakteurin Julia Voss und dem Autor, Kurator und Wissenschaftler Lars Bang Larsen hat er ein Kurator*Innen-Team verpflichtet, dessen Interdisziplinarität für neue Sichtweisen auf ein zum Mythos geronnenes Institut gut sein könnte.

Zeitlich wird die Ausstellung die Ausgaben der documenta 1 von 1955 bis zu Jan Hoets documenta 9 im Jahr 1992 umfassen. Mit der documenta selbst hat Gross vereinbart, dass das DHM das documenta-Archiv für seine Forschungen nutzen kann. Im Gegenzug sollen die Erkenntnisse, die seine Forscher sammeln oder die Oral-History-Interviews, die sie für die Ausstellung führen, später im documenta-Archiv in Kassel aufbewahrt bleiben.

Eine gewisse Brisanz birgt der Fakt, dass die Berliner Schau im Frühjahr 2021 und damit ein gutes Jahr vor der Eröffnung der documenta 15 eröffnen soll. Was immer sie zeigen wird, dürfte an der Kasseler Schau nicht spurlos vorübergehen. Weitere Funde zum NS-Komplex sind zumindest nicht auszuschließen.

Zeitgleich zur documenta-Schau will das DHM zudem eine Ausstellung zeigen, die sich mit der gut 1000 Namen umfassenden Liste der „Gottbegnadeten“ Künstler befasst. Darin ließen Hitler und Goebbels 1944 alle für Regime unverzichtbaren Kunstschaffenden zusammenfassen. Wie über allen Ausstellungs-Projekten derzeit schwebt auch über dem ambitionierten DHM-Projekt das Damoklesschwert Corona. Noch ist nicht abzusehen, ob die Pandemie eine Verschiebung oder Umplanung notwendig machen wird.

Schlange stehen in Zeiten des Coronozän

„Ich will doch nur die Überweisung“. Der alte Mann, der die Straße entlang humpelt, stoppt vor der Post. Mit zitternder Hand hält er zwei orange gerasterte Zettel in die Höhe. Fassungslos fixiert er die Schlange vor der Stahltreppe hinauf zum Eingang, dreht sich zu dem jungen Mann mit Migrationshintergrund und gelber Schutzweste, der das Geschehen von oben dirigiert. „Nur die Überweisung“ wiederholt er und präsentiert seine Zettel wie Passierscheine. Die weißen Haare umtanzen ihn wie ein Strahlenkranz.

„Die wollen da nicht mehr als vier Leute drin haben. Wegen der Ansteckung“, erkläre ich dem geschockten Senior die Lage. Der Security-Löwe weist mit dem Finger in die Ferne. Die dunklen Augenhöhlen des Alten weiten sich zum Medusenblick, als er sieht, dass sich die Reihe der Abstandshalter bis zu dem Eingang des Alnatura-Ladens um die Straßenecke zieht. Er beginnt, unmotiviert mit den Armen zu schlagen. „Polizei kommt“, versucht sich der Treppenwächter zu rechtfertigen, „paarmal schon, messen jeden Meter“ und zuckt mit den Schultern.

Jahrzehntelanges Probestehen für das neue I-Phone und das Berghain, in Lichter- und Menschenketten haben Deutschland auf die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gut vorbereitet. Wahrscheinlich reihen sich deshalb jetzt fast alle so klaglos zur morgendlichen Schlange, auch wenn sie hier niemanden an den Händen halten dürfen.

Trotzdem steckt meinen Mitstehern eine gewisse Scham in den Klamotten, zu Statisten in einer Szenerie genötigt zu werden, die an das Regiment der Mangelwirtschaft mehr als an den Mäander der Spektakelkultur erinnert, der sich einst um die Nationalgalerie mit den Schätzen des MoMA wand.

„Wie früher, als wir für Bananen angestanden haben“ seufzt eine ältere Dame im dunkelblauen Kostüm. „Krass, guck Dir das an“ ruft ein Fahrradfahrer seiner Freundin zu. Ungläubig bestaunen sie die um die Stahlpoller gewundene Serpentine wie das Skelett eines Dinosauriers im Naturkundemuseum. Mir gefällt diese soziale Plastik gewordene Absage an die schnöde Gerade. Schönheit ist schließlich eine Schlangenlinie, freut sich Kritiker in mir, als ich wieder anderthalb Meter vorrücke.

Natürlich versuchen immer wieder ein paar dieses zum XL-Monster gestaute Distanzgebot zu unterlaufen. „Schlange ist Schlange, Filiale, Filiale“ wächst der Glatzkopf in weißer Tunika, der hier jeden Tag mit servilem Lächeln den „Querkopf“ verkauft, aus der Rolle des Gabenempfängers in die des Hilfssheriffs, als er eine Frau mit Sonnenbrille anherrscht, die sich mit einem gemurmelten „nur schnell mal was fragen“ vordrängeln will. „Bettruhe bei nationalem Fieberwahn“ steht auf seinem Fahrradkorb.

„Komm hoch“ ruft mir der echte Sheriff von der Rampe zu, als er mich in der Schlange erblickt. „Ich will mich nicht vordrängeln“ wehre ich ab. „Postfach, Blindenausweis, Geldautomat. Kann rein. Das entscheide ich“ entgegnet er. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.

Ich will nicht lügen. Zu Beginn des Coronozäns war ich auch von dem Schlangenritual genervt. Dann fügte ich mich in das Unvermeidliche, trat jeden Tag neu symbolisch der Solidargemeinschaft im Leid bei. Nach ein paar Tagen hatte sich dann eine Art Herdenimmunität gegen das Virus Ungeduld gebildet.

In stummem zivilem Gehorsam, die Köpfe auf das Smartfon gesenkt, Pakete unter dem Arm, Mundschutz über der Nase warten wir alle auf den Gang zum Schalter. „Wir kommen schon durch, paar Wochen noch“ murmelt mein Vordermann, als er sich dreht und die Nase in die Sonne reckt. „Dauert lange“ sagte der junge Mann auf dem Treppenabsatz ohne aufzuschauen. Abgebrüht wie ein alter Veteran im Schützengraben winkt er den nächsten hoch.

Kunst und Pandemie: Meret Oppenheims „Handschuhe“

Mein Kunstwerk der Stunde ist ein Objekt: Es sind die zwei Handschuhe, die Meret Oppenheim 1985 als Edition von 150 Exemplaren schuf: Zwei nebeneinander liegende Handschuhe aus grauem Ziegenleder. Auf deren Rücken sind ganz fein in rotem Siebdruck die Adern ihrer eigenen Hände aufgebracht.

Die Arbeit ist nicht so bekannt wie die Kaffeetasse, die sie 1936 mit Pelz überzog. Sie demonstriert aber einmal mehr, wie Oppenheim das Leblose zu animieren, rätselhaft aufzuladen versteht. An die Schutzhandschuhe, mit denen wir uns heute vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen versuchen, hatte sie vor 35 Jahren natürlich nicht gedacht. Jetzt wirken sie wie Symbolbilder für die Kontaktpanik in der Pandemie.

Der Surrealismus solle die Menschen umhüllen „wie ein Handschuh die Hand“ schrieb einst der Großmeister André Breton. Auch mit ihrer Arbeit führt Oppenheim ins Reich des Unterbewussten, als sie das Innere nach außen kehrt, den verletzlichen Körper aus Fleisch und Blut hervorholt, den keine Schutzhülle vergessen machen kann.

Handschuhe sind ein Symbol des Schutzes. Die roten Linien auf der Arbeit lesen sich aber auch wie das Kapillarsystem der Infektionen, das inzwischen die ganze Welt durchzieht. Vielleicht war es kein Zufall, dass die Künstlerin die Arbeit im Jahr ihres Todes geschaffen hat. Für mich zeigen Meret Oppenheims Handschuhe die offenen Adern der Zivilisation.

Flaschensammeln im Coronozän

Not macht erfinderisch – dass der Satz nicht nur ein blöder Spießerspruch ist, der Bescheidenheit lehren soll, dämmerte mir in irgendeiner Sommernacht, als ich mit Freunden auf der Admiralbrücke saß und ein paar emsigen türkischen Seniorinnen mit Hackenporsche zusah, die die leeren Flaschen einsammelten, die die ultralegere Meute ringsherum demonstrativ desinteressiert auf dem Bordsteinpflaster aufreihte.

Fasziniert von der Zeugenschaft beim Entstehen einer primitiven Kreislaufwirtschaft mit Nachhaltigkeitseffekten, eine Art performativer Feldversuch in primärer Akkumulation, nahm ich auf dem Nachhauseweg einfach mal alle Flaschen mit, die unmittelbar am Wegesrand standen und für die ich nicht im Gebüsch stochern oder mit der Taschenlampe in Müllbehälter leuchten musste.

Gut, es war eine warme Nacht. Wahrscheinlich waren es deswegen unglaubliche 19 Bierflaschen, etliche Club-Mates und Fritz-Kola und zwei Plastikflaschen XL Coke. Meine Mutter hatte doch recht: Das Geld liegt auf der Straße. Zum Glück sah mich niemand im Treppenhaus mit dem Flaschengold. Der Pfanderlös am nächsten Tag reichte für einen Cappuccino in der Espressolounge.

An diesen Selbstversuch habe ich mich vermutlich erinnert, als ich nach dem Beginn des Coronozän mitternächtliche Spaziergänge aufnahm. Es lädierte zwar den Habitus des melancholischen Late-Night-Existenzialismus, mit dem ich der Krise zu trotzen gedachte, als ich mich verstohlen bückte, und nach ein paar Flaschen griff, die an den Ausgängen der Columbia-Halle stehen geblieben waren. What the fuck? Wollte ich meine Misserfolge beim Klopapier-Hamstern damit kompensieren? Oder macht Not eben doch anfällig? Egal, dachte ich: Was man hat, hat man.

In schlechten Zeiten können auch ein paar Pfandflaschen nicht schaden. Plötzlich war der nächtliche Catwalk in weitem Bogen um den menschenleeren Kiez nicht nur das pflichtschuldig absolvierte Bewegungsminimum, sondern folgte einem höheren Sinn: Ich sammle. Je weiter ich lief, desto mehr staunte ich, wie wenig das rigide Berliner Kontaktverbot der Kulturtechnik des dislozierten Wegebiers etwas anhaben konnte.

Kaum ein Hauseingang, ein Schaufenster, eine Bushaltestelle, an dem sich nicht eine, eher zwei halbvolle Flaschen fanden. Was war hier los? Wo kamen die alle her? Feierten die immer noch alle ihre Corona-Parties? Sollten die nicht längst alle in der Quarantäne-Hölle schmoren?

Beim S-Bahnhof Yorckstraße hatte ich schon neun Bierflaschen und eine Coladose in der aus einem Dornenstrauch geklaubten Plastiktüte von Netto. So etwas wie Gier überkam mich. Plötzlich war nicht mehr der Weg das Ziel, sondern das herrenlose Leergut. Kein gläserner Rest war jetzt mehr vor mir sicher.

Schon von weitem meinte ich die Lichtreflexe versteckter Flaschenkörper schimmern zu sehen. An einem schummrigen Späti guckten die beiden Kämpen, die vor der Tür ein verbotenes Bier zischten, unsicher, als ich ihre fast leeren Flaschen mit einem Glitzern in den Augen taxierte.

Nur der Rollenwechsel vom Prekariat zum Lumpenproletariat wollte nicht recht funktionieren. Bei jedem Passanten tat ich betont unauffällig und versuchte die verräterisch klirrende Plastetasche in eine stabile Seitenlage zu bugsieren. Wenn ein Gassi-Geher samt Vierbeiner in Sichtweite einer Flasche herumbummelte, vertiefte ich mich in’s Smartfon, bis die Bahn frei war. Ich bin ja kein Flaschensammler, ich sammle nur!

Meine Profi-Kollegen, die mit dicken Taschen auf dem Fahrrad ungeniert systematisch vorgingen, mied ich. Nur am Viktoriapark ließ ich mich verleiten, einem Weg ins Dunkle zu folgen. Schließlich thronte auf einem verschmierten Papierkorb eine fette Fünfer-Corona Berliner Pilsener. Ich hatte schon die Hand ausgestreckt, als plötzlich hinter einem Busch die Scheinwerfer eines blauen Autos mit sieben silbernen Buchstaben aufblendeten.