Alltag mit Corona: Berlin

Die Gesichter im Halbdunkel sind nur schemenhaft zu erahnen. Die Augen sind auf das fluoreszierende Display gerichtet. Wer zu Beginn des Coronozän, des neuen Zeitalters im Zeichen des Virus, zum Spaziergang aufbrach, traf meist auf Konstellationen wie diese.

Berlin war da keine Ausnahme in dem globalen Trend. Menschen, die sich in Hauseingänge, Parkecken oder Bushaltestellen drückten, immer auf der Hut vor allzu eng aufschließenden Passanten oder den zirkulierenden Ordnungskräften.

Trotzdem entbehrte es natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass die Pandemie ausgerechnet in der Hauptstadt der deutschen Demokratie alle zurück in eine rudimentäre Öffentlichkeit zwang, die an schlechte Gangster-Filme erinnerte.

Vielleicht war auch der Reiz, dieses symbolische Terrain zurückzuerobern, die treibende Energie hinter dem Furor, mit dem die sogenannten Querdenker Ende August den Reichstag zu stürmen versuchten. Oder wenige Monate später ein selbsternannter Globalisierungsgegner sein Auto gegen das Metallgitter von Angela Merkels Kanzleramt steuerte.

Gehörte es doch zu den paradoxen Erfahrungen der Pandemie, dass die Macht in Berlin sich umso unsichtbarer machte, je vehementer sie zuschlug. Täglich sah man die Kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen auf der Mattscheibe Maßnahmen verhängen.

Im real existierenden Regierungsviertel im Spreebogen herrschte freilich gespenstische Leere. Hatte man Angela Merkel noch am Abend des ersten Lockdown-Beschlusses getroffen, wie sie den Einkaufswagen durch ihren Lieblings-Supermarkt an der Friedrichstraße schob, war sie von da an ins Digitale entrückt.

Jedenfalls war es ein ziemliches Aufatmen, als die Zeit, in der infektionsfördernde Zusammenrottungen als Straftat galten, endlich endete. Und jetzt geht das Ganze schon wieder los. Zum zweiten Mal geschlossene Grenzen, Ausgangssperren soweit das Auge reicht, wieder steigen überall die Todeszahlen.

Zu Beginn der Pandemie hatten die Berliner noch getan, als ob für die Hauptstadt des Cool Sonderregeln gälten. Vom Ku’damm bis zur Friedrichstraße drängelten sich die Massen als wären sie immun gegen das Virus. In der Berliner U-Bahn husteten sich alle demonstrativ an. Und von der Bergmannstraße bis zur Partymeile an der Oberbaumbrücke schien der paradierenden Szenemeute aus Friedrichshain-Kreuzberg das Wort Maske ein nie gehörtes Fremdwort.

Die heranschwappende zweite Welle schien der Stadt dann aber gehörig in die Glieder zu fahren. Anfang Oktober zierte die wenigen Litfaßsäulen, die der Stadt, in der dieses Klebemedium entstand, noch geblieben waren, eine ziemlich rüde Plakatserie.

Das Stadtmarketing hatte dort ein Bild aufhängen lassen, das eine ältere Frau mit großer Mund-Nasen-Bedeckung zeigt, die dem Betrachter den Mittelfinger entgegenstreckt. Dazu der Spruch: „Der erhobene Zeigefinger für alle ohne Maske. Wir halten die Corona-Regeln ein“.

Selbst Michael Müller, Berlins unfassbar blass regierender Bürgermeister, erwachte plötzlich aus der Narkose. „Das ist peinlich“ beendete der große Zauderer den missglückten Versuch, der permissiven Metropole die Zügel der Distanznahme anzulegen. Musste angesichts der steigenden Inzidenzzahlen dann aber doch in den sauren Apfel des neuerlichen Lockdowns beißen.   

Dass die notorischen Partygänger nicht mehr im Berghain, Berlins mythischem Nachtclub, in schweißtreibender Enge feiern konnten, leuchtete ihnen langsam aber sicher ein. Es war freilich nur eine Frage der Zeit, dass sie Ersatz für die untersagte Vergemeinschaftung suchen würden. Irgendwann würde sich der Druck im Dampfkochtopf Pandemie sein Ventil suchen.

Solidarische Single wie ich können die vermaledeite Kontaktsperre noch mit dem Gang zum Supermarkt kompensieren. Zwischen Tiefkühlpizza, Äpfeln und Klopapier gaukele ich mir vor, in Gesellschaft und unterwegs gewesen zu sein. Und die Jungs in den türkischen Nachtbars wechseln jetzt halt mitternachts von den Outdoor-Lounges auf den Boden ihrer abgedunkelten Spielhöllen.

Die im ewigen Loop zwischen Barcelona, Berlin und Istanbul kreisende, Easy-Jet-Fraktion dagegen tut sich schwer damit, nur noch das Tempelhofer Feld umkreisen oder Radtouren in den Spreewald unternehmen zu dürfen.

Inzwischen trifft man beim nächtlichen Kontrollgang auf immer demonstrativere Corona-Parties. Zu Füßen des Wasserfalls in Kreuzbergs winterlich entblätterndem Viktoriapark formieren sich die Nachtschwärmer kurz vor Mitternacht zur kritischen Masse. Am Black Friday kam dann die pandemische Kernschmelze.

„Der November ist der Monat der Eigenverantwortung“ hatte der Regierende den Hauptstädterinnen noch kurz zuvor in einem in alle Haushalte verteilten Brief eingebläut. In den Shopping Malls am Potsdamer Platz drängelten sich die Konsumjunkies wie in einer Nerzfarm.

Wie sehr vor allem der Kulturszene der Geduldsfaden zu reißen beginnt, demonstrierte die Columbiahalle direkt hinter meiner Wohnung am Südende von Kreuzberg.

Hatte das ehemalige Casino der US-Truppen am Flughafen Tempelhof, heute ein beliebtes Konzerthaus, auf seiner Leuchtwand noch das trotzige „Bis bald. Bleibt gesund!“ prangen, flackert dort heute die neonfarbene Drohung „Hier eröffnet in Kürze ein Getränkemarkt“.

„Mich wundert das alles nicht“, gestand ich einem Freund, mit dem ich Mitte November die heilsgewisse Truppe von Anti-Coronisten mit Friedenstauben und Luftballons aus roten Herzen beobachtete, die die Polizei mit Wasserwerfern vom Reichstag weg in Richtung Brandenburger Tor spritzte.

Von den nervtötenden Maskenverweigerern waren mir dann aber doch die Woodstock-Jünger lieber, die im Sommer in der Neuköllner Hasenheide ihre strahlenden Knicklichter geschwungen hatten. Jetzt sitzen sie mitternachts im dicken Parka auf der Parkbank, lassen die Dealer an sich vorüber flanieren, starren auf ihre blinkenden Smartfons und warten auf Angela Merkels Entwarnung – die nicht kommt.

Streit um neuen documenta-Aufsichtsrat in Kassel

„Es muss geklärt werden, ob wir den Aufsichtsrat überhaupt noch brauchen.“ So ließ sich Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle noch im Frühjahr 2018 vernehmen. Nach dem angeblichen Finanzskandal nach Abschluss der documenta 14 mit Standorten in Kassel und Athen war nicht nur der SPD-Politiker unzufrieden mit der Arbeit des Aufsichtsgremiums der 1955 gegründeten Weltkunstausstellung.

Ganz abschaffen will Geselle das Gremium offenbar nicht mehr. Aber der Weg zu einer effektiven Umgestaltung erweist sich als schwierig. Sein vor kurzem, zusammen mit dem Land Hessen ausgehandelter Entwurf zur Verkleinerung des Gremiums stößt auf Widerstand in der Kasseler Kommunalpolitik. Der Entwurf sieht einen, von 13 auf neun Köpfe reduzierten Aufsichtsrat vor.

Bislang gehören ihm neben Vertretern der Stadt, des Landes und der Kulturstiftung des Bundes auch vier Stadtverordnete an. Nun sollte er nur noch aus drei Mitgliedern der Stadt (Oberbürgermeister plus zwei weitere) und drei Mitgliedern des Landes (Kunstministerin plus zwei weitere) sowie aus drei unabhängigen Sachverständigen bestehen.

Der Bund, der bislang durch zwei Vertreter der Bundeskulturstiftung repräsentiert war, die die documenta finanziell unterstützt, wäre dann nicht mehr repräsentiert gewesen. Hortensia Völckers, die Künstlerische Leiterin der Stiftung und ihr mittlerweile pensionierter Vorstands-Kollege Alexander Farenholtz hatten das Gremium 2018 wegen der Art und Weise, mit der OB Geselle den Streit um die Finanzlücke der documenta 14 eskaliert hatte, verlassen.

Oberbürgermeister Geselle beruft sich bei seinem Entwurf auf den „Public Corporate Governance Kodex“ (PCGK) des Landes Hessen, an dessen Regelungen sich der documenta-Gesellschaftsvertrag anlehne. Der Kodex stelle für das Land Regeln und Handlungsempfehlungen für die Steuerung, Leitung und Überwachung von Unternehmen dar, an denen es beteiligt sei. Konkrete Vorgaben für die Größe und personelle Zusammensetzung der Gremien gibt der Kodex freilich nicht her.

Unwillen hatte unter Beobachtern die Tatsache des stromlinienförmig auf den Ob zugeschnittenen Gremiums erregt. Die Kasseler Parlamentarierinnen hatte nicht nur die Tatsache erregt, dass ihre Anzahl in dem neuen Aufsichtsrat dezimiert worden wäre. Was auch die Verankerung der documenta im politischen Raum geschmälert hätte.

Sondern dass die unabhängigen Sachverständigen auf Vorschlag von Beiräten des documenta-Instituts sowie der documenta-Geschäftsführung „aus sachnahen Gebieten mit nationaler Reputation“ gewählt werden sollten. Internationale Reputation kam offenbar nicht in Betracht.

Der Streit um den Aufsichtsrat ist ein weiterer Beleg für die holprigen Versuche zur Neuaufstellung des Komplexes documenta in der nordhessischen Metropole.

Erst kürzlich kippte die Stadtverordnetenversammlung nach Bürgerprotesten den Plan für einen Neubau des künftigen documenta-Instituts am Kasseler Karlsplatz Ein neuer Bauplatz ist noch nicht in Sicht.

Derweil kämpft auch die von dem indonesischen Kuratorenteam Ruangrupa kuratierte 15. Ausgabe der documenta angesichts der Corona-Pandemie mit Problemen. Reisen und Atelierbesuche können kaum stattfinden.

Eine Verschiebung der für Juni 2022 geplanten Schau in das Jahr 2023 schloss documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann dieser Tage in einem Interview aus. Deutete aber eine partielle Verlegung des Kunstgeschehens ins Digitale an.

Ob sich damit die jetzige Finanzplanung für die documenta aufrecht erhalten lässt, die wesentlich auf Einnahmen durch Tickets von vor Ort präsenten Besucher:innen basiert, steht in den Sternen. Um neuerlichen Finanzturbulenzen rechtzeitig vorzubeugen, könnte hier ein neuer Aufsichtsrat seinem Namen einmal gerecht werden.