Freigeister in Luxemburg

„Mir wölle bléiwen wat mer sin“ – die Inschrift an einem Erker an einem Bierhaus am Fischmarkt bringt die Idee Luxemburgs in nuce. Die Sentenz, mit der der Dichter Michael Lentz Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Einzug der Eisenbahn in Luxemburg reagierte, gilt als Wahlspruch des Ministaats.  

Doch das Langweiler-Image des ländlichen Kleinstaats zwischen Frankreich, Deutschland und Belgien beginnt, sich zu ändern. Das zeigte dessen Art-Week Mitte November.

„Freigeister“ – das ist nicht gerade die Spezies, die man in dem Land vermutet, welches es sonst mit Steuerflucht, einem Premierminister unter Plagiatsverdacht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in die Schlagzeilen schafft. Doch die gleichnamige Ausstellung im Museum für Moderne Kunst (Mudam), parallel zu dem Marketing-Event, demonstrierte eine angriffslustige luxemburgische Kunst-Szene.

Wie eine Parodie auf das Image Luxemburgs als das Bankschließfach der EU wirkte eine Installation der belgischen Luxemburgerin Aline Bouvy. Auf dem Bildschirm des in eine Museumswand eingelassenen Bankautomaten öffnet sich nach der Aufforderung, die Karte einzuführen, plötzlich ein Animationsfilm, in dem ein Anus Geld auszuscheiden beginnt.

Inspiriert von den Schriften der australischen Kultur- und Medientheoretikerin McKenzie Wark stellt das Mudam in seiner zweiten Großausstellung „Post-Capital“ zudem die ketzerische Frage: „Capital is dead: Is this something worse?“

Wie eine Anspielung auf den 2014 eröffneten Luxemburger Kunst-Freeport des Schweizer Unternehmers Bouvier liest sich Hito Steyerls Arbeit „Free Plots“: Ihre Installation aus Holztrögen nimmt die Grundrisse des erüchtigten Genfer Pendants auf, in dem ihre Werke einst gelagert waren. Sie hat sie von einer Luxemburger Garten-Gemeinschaft bepflanzen lassen.

Der eigentliche Herzschrittmacher der allgemeinen Szenebeschleunigung ist aber doch etwas Monetäres: Die Luxemburger Kunstmesse. Auf dem mit diesem Institut überreichlich bestücktem Benelux-Terrain, noch dazu kurz vor der Art Cologne, 80 Galerien und jedes Jahr rund 15.000 Besucher zusammen zu trommeln, ist schon ein kleines Kunststück.

Messegründer Alex Reding, Jahrgang 1971, Platzhirsch der Blue-Chip-Galerien am Ort, will mit dem kräftezehrenden Unternehmen Art Week die Stadt an die internationalen Kunstströme anbinden. Und er reagiert auf gewandelte ästhetisch-finanzielle Bedürfnisse.

„Das ist hier keine homogene Idylle mehr. 70 Prozent der 120000 Luxemburger stammen nicht mehr aus dem Land“ argumentiert Reding, eine formidable Mischung aus sarkastischem Unternehmer und ehrlichem Kunstenthusiasten.

Recht hat er: Die rund 170 in der Stadt versammelten Nationen machen den „schönsten Balkon Europas“ zu einer der diversesten europäischen Metropolen. Luxemburg verweist stolz auf das zweitniedrigste Pay-Gap zwischen den Geschlechtern. Mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Europas tun sich hier ungeahnte Schürfgründe für den Kunstmarkt auf.

Dieser reichtumsbefeuerte Kulturwandel ist auch der Grund für die Investitionen in Kunst und Kultur. Zur Eröffnung der neuen Kunsthalle in Luxemburgs Partnerstadt Esch, 2022 Kulturhauptstadt Europas, reagiert Gregor Schneider Anfang Oktober in dem umgebauten Möbelhaus mit zwanzig seiner surrealen Räume auf die Identitätsprobleme der Region im Übergang von Eisen und Stahl zur Postindustrie.

Die 7. Ausgabe der 2005 gegründeten Kunstmesse glich zwar auch in diesem Jahr über weite Strecken einem Gruselkabinett eines kunsthistorisch zwar anachronistischen, farbenfrohen Expressionismus. Eye-Catcher waren die großformatigen, erotischen konnotierten Ölbilder von Nguyen Xuan Huy, die die Erfurter Galerie Rothamel präsentierte.

Kristian Jarmuschek, Chef des Bundesverbandes Deutscher Galerien (BVDG), mit seiner Galerie ebenfalls Teilnehmer, wollte schon lange nicht mehr so viele nackte Frauenbrüste in Öl bei einer Messe gesichtet haben. Doch selbst in diesem feuchten Acrylparadies waren veritable Entdeckungen zu machen.

Messechef Reding präsentierte neben Stars wie Stefan Balkenhol, Venedig-Biennale-Siegerin Su-Mei Tse oder dem Kanadier Mike Bourscheid eine wunderbare Serie filigraner Zeichnungen des 1966 in Saarbrücken gestorbenen August Clüsserath zu erschwinglichen 2000 Euro. Gebrüder Lehmann aus Leipzig, eine von zwölf deutschen Galerien, präsentierten die abgründigen Bildwelten der Dresdnerin Beate Hornig.

Die Luxemburger Galerie Hessler konnte gar ein Werk von Simon Hantaï, einem der wichtigsten Vertreter der „konservativen Revolutionäre“ der 60erJahre in Frankreich, Freund von Max Ernst und Jackson Pollock und documenta-Teilnehmer 1959, anbieten: Kostenpunkt: 680.000 Euro.

Ausgerechnet dieser fröhliche Jahrmarkt gab dann aber doch ein Forum für politische Kunst ab. Nicht in Berlin oder New York, sondern im beschaulichen Luxemburg präsentierte die Singapurer Galerie Intersections die Ausstellung „Femmes En Resistance“ aus Myanmar.

Auf dem Ölbild der feministischen Malerin Chuu Way Nyein hocken drei Frauen fröhlich entschlossen auf einem Felsen: „Let’s fight the final battle“ ist auf einer der drei Fahnen zu lesen, die hinter ihnen im Winde wehen.

Messen und Art-Weeks – diese Booster-Impfungen des Kunstbetriebs, eignen sich auch als Kulisse für subversive Nadelstiche in’s amnestische Bewusstsein. Pünktlich zum Auftakt montierte das Kunstkollektiv Richtung22 in der Stadt Straßenschilder mit kolonialistischem Hintergrund wie Christoph Columbus oder Coudenhove-Calergi ab und entführte sie ins Museum.

„Da gehören sie hin. Museen haben ja auch sonst kein Problem mit Raubkunst“ rechtfertigte die Truppe ironisch ihre Aktion. Prompt erhielt das Casino, Luxemburgs Kunsthalle für’s absolut Zeitgenössische, die dafür einen Schauraum öffnete, von der Stadtverwaltung einen Strafantrag.

Das Haus flankiert mit seiner eigenen Schau „Stronger than memory and weaker than teardrops“ die kritische Stoßrichtung. Den Parcours zu Identität und Anderssein betreten Besucher:innen über einen roten Teppich wie beim Staatsbesuch. Links hängen in dem Korridor die Fahnen der 27 EU-Mitglieder, rechts die ihrer ehemaligen Kolonien. Decolonize! heißt es jetzt auch in Luxemburg.

So spiegelt die zeitgenössische Kunst eine schleichende Wende von Luxemburgs Selbstverständnisses von Retro zu Futuro. „Mir wëlle bléiwen, wat mir ginn“ hat Casino-Direktor Kevin Muhlen den von ihm kuratierten Beitrag seines Landes auf der Expo in Dubai im nächsten Frühjahr übertitelt. Was sich übersetzen ließe mit: „Wir wollen bleiben was wir werden“.