Antisemitismus-Skandal in Kassel. Noch ist die documenta nicht verloren

Ein Schweinsgesicht mit Davidsstern. Eine Visage mit Schläfenlocken, Reißzähnen und SS-Runen. Es ist richtig, dass das Werk „People’s Justice“ der indonesischen Künstler:innengruppe Taring Padi auf der documenta abgehängt wurde.

Antisemitismus ist keine „kulturspezifische Erfahrung“, wie das Kollektiv sich verteidigte. Antisemitismus ist ein globales Übel. Er ist immer und überall zu verurteilen, nirgendwo darf ihm ein Podium geboten werden.  

Die documenta wegen dieses Wimmelbildes jetzt unter Generalverdacht zu stellen, ist aber unredlich. Es macht aus den großartigen Installationen von 1500 Künstlerinnen aus aller Welt, die in Kassel ja auch noch ausstellen, keine „Antisemita“, wie der Publizist Sascha Lobo in einem Anfall von Infamie schrieb.

ruangrupa und Taring Padi sind keine notorischen Antisemiten oder U-Boote des BDS. Sie entstammen der Oppositionsbewegung gegen den Diktator Suharto. Durch ihre jahrzehntelange Arbeit im internationalen Kunstbetrieb zieht sich keine rechte Schleimspur.

Natürlich kann der Fall Suharto kein Feigenblatt für die Hassstandards gegen das für Verschwörungstheorien stehende Finanzjudentum sein. Dennoch: Wieso finden sich dieselben Motive nicht in ihren vielen hundert anderen Werken?

Und Stichwort Schweinskopf: Gibt es womöglich doch so etwas wie eine Differenz der Zeichen zwischen den Kulturen, die aufzuklären auf einer Weltkunstschau Sinn machen könnte? Oder ist „People’s Justice“ ein später Beweis für die „Migration der Form“, der die documenta 12 vor 15 Jahren nachspürte – ihr Wandern über kulturelle und geographische Grenzen?

Das Bild, das die deutsche Kunstszene ins Wanken brachte, scheint eindeutig – es ist aber komplex. Lassen wir einmal den Effekt beiseite, dass es plötzlich wie die Fratze der verdrängten Nazi-Vergangenheit der documenta wirkt.

Für einen Moment öffnete das böse Werk ein Fenster in die Kolonialgeschichte: Was wissen wir über die Rolle der europäischen Staaten, auch Deutschlands, bei der niederländischen Kolonisierung Indonesiens? Was von dem Antisemitismus und dem Rassismus, den die Kolonialmächte importierten?

Hat der indonesische Antisemitismus, der uns jetzt im Bild von Taring Padi so widerlich entgegenspringt, auch etwas mit dieser wenig aufgearbeiteten Geschichte zu tun? Was wissen wir über die europäische Unterstützung der Diktatur Suhartos und seinem Genozid an Millionen vermeintlicher Kommunisten?

Vielleicht ist uns Indonesien näher, als uns bewusst ist. Es war der deutsche Ethnologe Adolf Bastian, der Gründer des Berliner Museums für Völkerkunde, dem heutigen Ethnologischen Museum im Humboldt-Forum, der den Namen Indonesien erfand.

Erinnert sich noch jemand daran, dass Karl Carstens, der damalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt in Bonn, später dann Bundespräsident, Mitte der sechziger Jahre in mehrere verdeckte Waffenlieferungen unter Beteiligung des Bundesnachrichtendienstes eingebunden war, die eine antikommunistische Säuberungsaktion unterstützen sollten?

Rücktritte von Claudia Roth oder der documenta-Verantwortlichen lösen das tiefersitzende Problem nicht. Das jüngste Schuld-Eingeständnis von ruangrupa sieht Miki Lazar von der Jüdischen Gemeinde Kassel als ein positives Zeichen.

Die größte anzunehmende Krise der documenta könnte die Chance auf einen kollektiven Lernprozess sein: Über die globale Geschichte des Antisemitismus. Über die verzerrte Wiederkehr des Kolonialen. Über verantwortliches Kuratieren.

Wenn es Kunst, Wissenschaft und Politik gemeinsam schaffen, dieses Schlammloch auslöffeln, könnte das zum späten Erfolg der Idee werden, die Adam Szymczyk auf der documenta 14 im Jahr 2017 propagierte, aber nicht recht gelang: Learning from the South- Vom Süden lernen.

Frauen aus dem Osten. In der Ausstellung „Die Form der Freiheit“ rollt das Museum Barberini noch einmal die Geschichte der Abstraktion nach dem 2. Weltkrieg auf

„Wir sind aufgewachsen im Nichts, in einer kulturellen und moralischen Wüste. Malen! Ich versuche, zu malen, ich habe mir in den Kopf gesetzt, ein guter Maler zu werden, ist das nicht Wahnsinn, nach allem, was geschehen ist?

Nach dem 2. Weltkrieg war Winfred Gaul verzweifelt. 1928 in Düsseldorfer geboren, musste er noch 1944 als 16jähriger an die Ostfront. Nach dem Kunststudium schloss er sich 1955 der Künstlerbewegung Informel an, dem europäischen „Zweig“ der Abstraktion.  

Diese wird heute meist als formale Spielerei ohne gesellschaftliche Relevanz abgetan. Es ist nicht das geringste Verdienst der Ausstellung im Potsdamer Museum Barberini, dem privaten Kunstmuseum des IT-Unternehmers Hasso Plattner, dass sie die politisch-existenziellen Motive hinter der Loslösung von der Gegenständlichkeit sichtbar macht. Der Versuch eines ästhetischen Neuanfangs war auch eine Reaktion auf das Trauma des Nationalsozialismus.

Das einte einen Maler wie den Deutschen Winfred Gaul, den immerhin der US-Kritikerpapst Clement Greenberg 1961 zu einer Residency in die USA einlud, mit einem Mann wie Jackson Pollock – dem amerikanischen Halbgott des Abstrakten Expressionismus mit seinem Interesse an dem kollektiven Unbewussten oder mit einem Künstler wie Wols. Die schrundigen Leinwände des 1912 in Berlin geborenen und 1932 nach Paris emigrierten Künstler erinnerten an klaffende Wunden.

In der öffentlichen Wahrnehmung gilt der Abstrakte Expressionismus gemeinhin als Produkt des „all american boys club“ von Pollock bis Rothko. Zu den nachgerade sensationellen Seiten der Schau gehört die Erkenntnis, wie stark Frauen, vor allem aus Osteuropa, an seiner Entstehung beteiligt waren.

Programmatisch eröffnet Kurator Daniel Zamani die Schau mit Janice Bialas „Stilleben mit drei Gläsern“ aus dem Jahr 1962. Das Bild der 1903, im damals zu Russland gehörenden Polen geborenen, jüdischen Künstlerin, die 1913 in die USA auswanderte, zeigt den freien Umgang mit Form und Farbe.

Obwohl die enge Freundin Willem de Koonings zum engeren Umfeld der Abstrakten Expressionisten zählte, wurde sie von Kritikern wie Harold Rosenberg, der 1952 den Begriff des Action Painting prägte, damals kaum beachtet.

Hierzulande unbekannt sein dürfte auch eine Künstlerin wie Janet Sobel. Zamani stellt das fein verschlungene Werk „Illusion der Festigkeit“ von 1945 der 1893 geborenen, ukrainisch-amerikanischen Künstlerin einem der Werke Jackson Pollocks gegenüber. Von ihr bezog er die Inspiration zu seinen Drippings.

So beredt, opulent und qualitätsvoll die Ausstellung anhand von 97 Werken von 52 Künstler:innen die Entstehung einer neuen Kunstauffassung von der impressionistisch geprägten Farbfeldmalerei eines Sam Francis bis zu der Aktionsmalerei des deutschen Informel a la K. O. Götz oder Bernard Schultze auffächert, so indifferent bleibt sie gegenüber ihren ideologischen Implikationen.

Die Instrumentalisierung von expressiver Gestik und individuellem Ausdruck als Symbol politischer Freiheit und „Waffe im Kalten Krieg“ (so die US-Street-Art-Künstlerin Eva Cockroft) durch die CIA ist mittlerweile gut dokumentiert.

Das unausgesprochene Fazit der Schau ist, dass diese Kunstrichtung viel zu vielgestaltig war, als dass sie so umstandslos als Propagandakunst abzutun wäre, wie das im kritischen Kunstdiskurs gelegentlich geschieht.

In er Tat stand der Abstrakte Expressionismus in all seinen Facetten dem humanistischen Existenzialismus eines Jean-Paul Sarte oder Albert Camus näher als dem heroischen Individualismus des American Way of Live.

Dennoch bleibt es ein Dilemma der Ausstellung, dass die Schau schon im Titel den Mythos der „Abstraktion als Weltsprache“ reproduziert – einer Setzung, die in einem Moment der Dekolonialisierung des westlichen Kunstkanons fragwürdig erscheint. Denn Abstraktion wird hier rein westlich definiert und rekonstruiert.

Gerade weil Kurator Daniel Zamani diese Kunstrichtung aber nicht als transatlantisches Schisma und US-Triumph, sondern als „kreatives Wechselspiel“ zwischen den (meist eng befreundeten) Künstler:innen in den USA und in Westeuropa zeigen will, hätte es nahegelegen, auch die außereuropäischen Verbindungen anzudeuten.

Kein Zweifel: Diese Kunstrichtung war nichts weniger als eine Revolution. Sie brach radikal mit der kunsthistorischen Tradition, schaffte eine hierarchiefreie Kunst von unerhörter Suggestivwirkung und Energie. Global gesehen ist sie aber nur eine Form, ein Teil der Freiheit.

Die Form der Freiheit. Internationale Abstraktion nach 1945. Museum Barberini, Potsdam. Noch bis zum 25. September. Katalog, Prestel-Verlag, 34 Euro.

Die 12. Berlin-Biennale ist ein postkoloniales Katasteramt

Eine Frau mit glasigem Blick, die Brust entblößt, in der Hand hält sie einen Schädel. Deneth Piumakshi Veda Arachchiges Arbeit „Self Portrait As Restitution“ wirkt wie ein Leitbild der 12. Berlin-Biennale. Die französische Künstlerin mit srilankischem Hintergrund posiert als Bewahrerin des Erbes der indigenen Adivasi auf der früher Ceylon benannten Insel. Der Schädel stammt aus dem Raubzug zweier Schweizer Naturforscher aus dem 19. Jahrhundert. Arachchige hat ihn aus einem der Archive befreit, in denen sie das Schicksal ihrer Ahn:innen recherchierte.

Die Biennale, auf der die Arbeit prominent zu sehen ist, gleicht einem postkolonialen Katasteramt. Ein gewisser Deja-vu-Effekt stellt sich ein, laborierte doch schon die 11. Ausgabe an demselben Thema. Alle Gräueltaten der letzten 200 Jahre Kolonialgeschichte werden auf der „Present! Still!“ betitelten Schau akribisch vermessen. Der Subtext ist „Repair“.

Der Wunsch nach Reparatur, Heilung war schon das große Thema Kader Attias im Jahr 2012. Auf der documenta 13 zeigte der 1970 in Frankreich geborene Künstler mit algerischen Wurzeln seine phantastischen Skulpturen geflickter Soldatengesichter.

So kongenial wie er damals das koloniale Trauma symbolisierte, schaffen das nur wenige der 85 Künstler:innen der von ihm kuratierten Biennale. Attia spickt seine Anklageschrift gegen den Kolonialismus nämlich mit zu vielen dokumentarischen (Beweis-)Videos. Jean-Jacques Lebel treibt diesen Realismus mit seinem peinigenden Labyrinth aus Folter-Bildern der US-Armee nach der Besetzung Bagdads 2003 auf eine problematische Spitze.

Selten übersteigen Arbeiten diesen Ansatz so faszinierend wie die orangefarbenen „Kotzmädchen“ der vietnamesisch-australischen Künstlerin Mai Nguyen-Long, die auf den Einsatz des Gifts „Agent Orange“ im Vietnam-Krieg anspielen: Eine Mischung aus Edvard Munch und Frida Kahlo.

Biennalen sind keine Wohlfühlcamps für Familiensonntage. Sie sollen experimentieren, herausfordern, neuen, auch schmerzhaften Formen der (Welt-)Wahrnehmung den Weg ebnen. In die Nähe des Traums und der Imagination, die Attia dann paradoxerweise in einem brillanten Essay zur postkolonialen Debatte als Mittel des Widerstands gegen die „algorithmische Governance“ im „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ beschwört, kommen nur wenige Arbeiten.

In Raed Mutars titellosem Ölgemälde, auf dem ein melancholisch blickender Mann seinem halbnackten Gegenüber mit grüner OP-Maske eine Infusion in den Mund tropft, spürt man so etwas wie einen Ausweg aus dem kolonialen Trauma: persönliche Nähe, praktizierte Solidarität.

Wir müssen reden! Die documenta fifteen in Kassel kämpft gegen eine Antisemitismus-Kampagne, die ihre Existenz gefährden könnte

Das Ende der documenta? Bis vor kurzem schien eine solche Perspektive undenkbar. Die 1955 gegründete Weltkunstschau im nordhessischen Kassel zählt zu den festen Größen im Kunstbetrieb wie die Pyramiden in Ägypten oder die Oscar-Gala. Nun sieht sie sich einer diskursiven Zangenbewegung gegenüber, die erstmals ihre Existenz gefährden könnte.   

Im Februar 2019 war die überraschende Berufung des indonesischen Kollektivs ruangrupa zu den Kurator:innen der 15. Ausgabe, die am 18. Juni eröffnen soll, noch wohlwollend aufgenommen worden. Der ganz große Ärger begann in diesem Januar, als ein anonymer Beitrag in dem Blog „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“ der „documenta fifteen“ (d15), wie sich die Schau diesmal nennt, eben diesen vorwarf.

Der Vorwurf gegen die als documenta-Teilnehmer eingeladene palästinensische Gruppe „The Question of Funding“, die in einem Kulturzentrum in Ramallah arbeitet, das nach dem arabischen Nationalisten Khalil al-Sakakini (1878-1953) benannt ist, erwiesen sich zwar bald als haltlos.

Das hinderte die deutsche Presse von FAZ bis Zeit nicht daran, den tendenziösen Text eines unbekannten Antideutschen, gehörig hoch zu jazzen. Diese Fraktion der radikalen Linken identifiziert jede noch so marginale Israel-Kritik als Wiederkehr des eliminatorischen Antisemitismus, der den Holocaust möglich gemacht habe.

Wider besseres Wissen malte die deutsche Publizistik das Schreckgespenst einer antisemitischen Verschwörung in Kassel an die Wand. Plötzlich gerieten nicht nur Teile des Künstlerischen Teams der documenta wegen angeblich israelkritischer Haltung unter Antisemitismus-Verdacht, sondern sogar die neue deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth.

Die linke Grünen-Politikerin hatte im Mai 2019 die vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Resolution gegen die Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) abgelehnt, die das Existenzrecht Israels in Frage stellt und zum wirtschaftlichen und kulturellen Boykott des Staates aufruft. Ihre Begründung: nicht alle BDS-Unterstützer seien automatisch antisemitisch.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland schaltete sich ein, reklamierte Mitsprache bei der Auswahl der Diskutanten einer eilends anberaumten, dann wieder abgesagten Podiumsdiskussion der documenta zum Thema. Ihr Titel „Wir müssen reden!“.

Den Gipfel erreichte die vornehmlich von der Springer-Zeitung „Welt“ angeheizte Kampagne, als sie die d 15 als Beleg dafür nannte, wie die woke Kunstwelt überhaupt systematisch israelische Künstler marginalisiere.

Noch jede documenta generiert im Vorfeld erhebliches Erregungspotential. Mal ist es ein erratisch agierender Kurator, mal sein abstruses Konzept. Daran kann es diesmal nicht gelegen haben, dass es plötzlich schien, die documenta sei ausgerechnet von der liberalen Öffentlichkeit zum Abschuss freigegeben.

Auch nicht an der bis dahin ziemlich vagen „Lumbung“-Idee von ruangrupa. Die Reisscheune, die sie mit dem Wort aufrufen, steht als Metapher für eine Ökonomie gemeinschaftlicher Ernte und Teilens. Wie die fröhliche Truppe das in Kunst übersetzen würde, ist selbst wohlmeinenden Beobachtern bis heute schleierhaft.

In dem documenta-Streit verschlingen sich diverse Fäden der deutschen Debattenkultur zu einem Gordischen Knoten. Das Ritualhafte der Vorwürfe erinnerte an die – ihrerseits stark umstrittene – Kritik des amerikanischen Historikers A. Dirk Moses an den „Hohepriestern des Katechismus der Deutschen“, dessen fünfte Überzeugung da laute: „Antizionismus ist Antisemitismus“.

Die Bemerkung der FAZ zu Beginn des Streits, bei dem „überwiegend aus Angehörigen des Islam“ bestehenden Kollektiv dürfte „ein Bewusstsein für jüdische Belange eher schwach entwickelt sein“, offenbarte dagegen einen rassistischen Unterton.

Manifest wurde der plötzlich in den Slogans „Freiheit statt Islam! Keine Kompromisse mit der Barbarei! Islam konsequent bekämpfen!“, mit denen Unbekannte im April das „ruruHaus“, das Hauptquartier der Kurator:innen im Kasseler Stadtzentrum beklebten. Wenig später legten andere mit den Schmierereien „187“ und dem Namen „Peralta“ nach – Hinweise auf die Todesstrafe in Kalifornien und eine spanische Rechtsextremistin.

Die an die McCarthy-Ära erinnernde Unduldsamkeit, mit der ein Teil der Öffentlichkeit (die sonst für absolute Kunstfreiheit eintritt) ein spezifisch deutsches Dispositiv wie die (international umstrittene) BDS-Resolution militant zum Kriterium für akzeptable Kunst erhebt, muss Künstler:innen des globalen Südens wie intellektueller Rassismus vorkommen.

Und nur wenige Jahre nach dem Mord an dem Kasseler Kiosk-Besitzer Halit Yozgat, dem CDU-Politiker Walter Lübcke, dem ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten, sowie den tödlichen Anschlägen im hessischen Hanau vom Februar 2020 steht plötzlich auch wieder die Gefahr eines mörderischen Rassismus im Raum – diesmal gegen Künstler:innen.

Spätestens an diesem Punkt avancierte die documenta zum Punching-Ball eines Stellvertreterkrieges, in dem sich Postkolonialismus, Erinnerungspolitik und der Links-Rechts-Kampf um intellektuelle Deutungshegemonie überkreuzten.

In diesem Fight agiert ruangrupa noch immer reichlich unbeholfen. Einerseits setzt das Kollektiv ausdrücklich auf eine aktivistische, gesellschaftskritisch motivierte Kunst. Andererseits wies sie Kritik an ihrem Konzept und den Künstler:innen-Einladungen mit dem Hinweis auf die Kunstfreiheit zurück.

Zudem verzichtete die Gruppe darauf, die in den letzten drei Jahren ans Tageslicht beförderte Nazi-Vergangenheit der documenta in ihrer Schau zu thematisieren.

Mit der Entdeckung der NSDAP- und SA-Mitgliedschaft von Werner Haftmann, neben Arnold Bode einer ihrer legendären Gründerväter, ist der Mythos der documenta als kultureller Neuanfang nach 1945 geplatzt, das Symbol des besseren Deutschlands zeigt tiefe Risse.

Den Anstoß gaben Wissenschaftler:innen von außen, nicht etwa Institutionen wie das documenta-Archiv. Das Deutsche Historische Museum in Berlin präsentierte im vergangenen Sommer die Fakten erstmals einer größeren Öffentlichkeit. Solange die documenta selbst aber ihre Geschichte nicht aufarbeiten will, läuft sie Gefahr, darin unterzugehen.