Zwischen Repression und Selbstbehauptung. Zur Lage der Kunst in der Türkei Anfang 2023

„Natur“. „Gerechtigkeit“. „Gleichheit“.  Die Besucher des alten Gaswerks Müze Gazhane im Istanbuler Stadtteil Kadiköy staunten vergangenen September nicht schlecht, als sie die schwungvolle Performance „Flag’s Project“ bestaunten. Bei der Arbeit der indonesischen Künstlerin Arahmaiani für die 17. Istanbuler Kunstbiennale schwangen die Tänzer auf einer riesigen Bühne Fahnen mit Codewörtern des zivilen Ungehorsams, die schon im Gezi-Aufstand 2013 eine Rolle gespielt hatten.

Der letzte Kunstherbst am Bosporus war eine kleine Überraschung. Mit jedem Dekret ihres autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rückt die Türkei näher in Richtung Diktatur. Doch wie um klarzumachen, dass die unabhängige Kunst nicht aufgibt, zeigte sie demonstrativ Präsenz.

Dass die Biennale widerständige türkische Kunst- und Ökologieinitiativen mit internationalen Pendants in einem Dutzend Istanbuler Artspaces vernetzte, war dabei ebenso ein Zeichen wie die Präsentation der Funde aus dem bis dato nahezu unbekannten Frauenarchiv der Stadt Istanbul in einem von ihnen.

Von einer Revue der türkischen Performancekunst der 90er Jahre im Kunsthaus Salt bis zur feministischen Schau „Mis(s)placed Woman?“ in dem Kunstraum „Depo“ des seit viereinhalb Jahren inhaftierten Kunstmäzens Osman Kavala reichte die unübersehbare Anzahl von Ausstellungen rund um die Biennale.

Selbst der 2017 aus dem Amt als Chef des avantgardistischen Kunstverbunds „Salt“ gedrängte Kurator Vasif Kortun kuratierte eine Schau der israelischen Künstlerin Nira Pereg zu Sicherheit und Kontrolle im öffentlichen Raum. Das Yapı Kredi-Kulturzentrum im Herzen des Touristenviertels Beyoğlu zeigte unter dem Titel „Leben, Tod, Liebe und Gerechtigkeit“ eine Ausstellung, die das brutale Vorgehen des türkischen Militärs im kurdischen Südosten oder die verbotene Demonstration der „Samstag-Mütter“ aufgriff.

Und für ein Land, dessen Regierung regelmäßig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln lässt, war es ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli in ihrem Skulpturenpark die Plexiglas-Statue eines Kindes mit einer Regenbogenfahne aufstellte.

In diesem Jahr steht die Wiedereröffnung des privaten, vom Star-Architekten Renzo Piano neu errichteten Kunstmuseums Istanbul Modern der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı an, die auch die IKSV-Stiftung finanziert, die die Biennale trägt. Anfang Oktober hatte der Staatspräsident selbst das neue Haus der Kunstsammlung der renommierten Istanbuler Mimar Sinan-Kunstuniversität eröffnet. Alles in Ordnung also mit der Kunst am Bosporus?

Das herbstliche Zwischenhoch ist kein Grund für Entwarnung. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im symbolträchtigen, 100. Jahr der Republikgründung 1923, verschärfen Erdoğan und seine AK-Partei ihren Zugriff auf das Land. Sie ziehen nicht nur die populistische Daumenschraube an, wie die vom Präsidenten höchstpersönlich vergangenen Sommer losgetretene Hatz auf die türkische Pop-Diva Sezen Aksu. Die hatte sich in einem Lied über den Propheten Adam lustig gemacht.

Reihenweise wurden auch Theateraufführungen, Konzerte und Festivals verboten. Vor kurzem verabschiedete das türkische Parlament zudem ein neues Mediengesetz. Wegen eines unbedachten Tweets kann man in der Türkei nun drei Jahre ins Gefängnis wandern. Und was nützen die 164 Museen, die Erdoğan in den letzten 20 Jahren eröffnet haben will, wenn sich dort immer weniger etwas trauen? 

Es gehört freilich zu den Paradoxien der „Neuen Türkei“, die Erdoğan aufbauen wollte, dass der immer rigideren, politischen Dominanz keine kulturelle Hegemonie entspricht. „Politische Macht ist eine Sache. Sozial und kulturell zu regieren ist eine ganz andere Sache. Wir sind seit 14 Jahren an der Macht, aber wir haben immer noch Probleme im sozialen und kulturellen Bereich“ hatte der Staatchef schon 2017 vor der islamischen Erziehungsstiftung Ensar geseufzt.

Seine ein Jahr später lancierte Gegenoffensive in Gestalt der „Yeditepe-Biennale“ für die traditionellen Künste wie Kalligraphie, Miniaturmalerei oder Goldschmiedekunst, fand jedoch wenig Anklang. Was die Kunst angeht, hält sich die Intelligenz lieber an die Privatmuseen der großen, ökonomisch zwar opportunistischen, kulturell aber liberalen Industriellenfamilien wie Koç, Sabancı oder Borusan, private Galerien und Artspaces. Ihnen folgt neuerdings die Stadt Istanbul.

Das unter dem Namen „Müze Gazhane“ neu eröffnete alte Gaswerk im liberalen Kadiköy, Schauplatz von Arahmainis Flaggenparade, ist eines von sechs neuen, in der Türkei beispiellosen, öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CH-Partei neue Räume öffnen will. Der charismatische Kunstfreund hat ihr demokratisches Potenzial erkannt.

So gleicht die Lage der Kunst am Bosporus derzeit einem Kippmoment zwischen Repression und Selbstbehauptung. Gebannt warten alle auf den Ausgang der Wahlen im Juni. Gewinnt der trickreiche Präsident ein letztes Mal, dürften die letzten verbliebenen Künstler:innen und Intellektuelle ihre Koffer packen. Sollte die Opposition gewinnen, womöglich gar mit ihrem Traumkandidaten İmamoğlu, könnte sich das Kunstwunder wiederholen, das das Magazin „Newsweek“ 2005 mit seinem Titel „Cool Istanbul“ bejubelte.

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