Flaschensammeln im Coronozän

Not macht erfinderisch – dass der Satz nicht nur ein blöder Spießerspruch ist, der Bescheidenheit lehren soll, dämmerte mir in irgendeiner Sommernacht, als ich mit Freunden auf der Admiralbrücke saß und ein paar emsigen türkischen Seniorinnen mit Hackenporsche zusah, die die leeren Flaschen einsammelten, die die ultralegere Meute ringsherum demonstrativ desinteressiert auf dem Bordsteinpflaster aufreihte.

Fasziniert von der Zeugenschaft beim Entstehen einer primitiven Kreislaufwirtschaft mit Nachhaltigkeitseffekten, eine Art performativer Feldversuch in primärer Akkumulation, nahm ich auf dem Nachhauseweg einfach mal alle Flaschen mit, die unmittelbar am Wegesrand standen und für die ich nicht im Gebüsch stochern oder mit der Taschenlampe in Müllbehälter leuchten musste.

Gut, es war eine warme Nacht. Wahrscheinlich waren es deswegen unglaubliche 19 Bierflaschen, etliche Club-Mates und Fritz-Kola und zwei Plastikflaschen XL Coke. Meine Mutter hatte doch recht: Das Geld liegt auf der Straße. Zum Glück sah mich niemand im Treppenhaus mit dem Flaschengold. Der Pfanderlös am nächsten Tag reichte für einen Cappuccino in der Espressolounge.

An diesen Selbstversuch habe ich mich vermutlich erinnert, als ich nach dem Beginn des Coronozän mitternächtliche Spaziergänge aufnahm. Es lädierte zwar den Habitus des melancholischen Late-Night-Existenzialismus, mit dem ich der Krise zu trotzen gedachte, als ich mich verstohlen bückte, und nach ein paar Flaschen griff, die an den Ausgängen der Columbia-Halle stehen geblieben waren. What the fuck? Wollte ich meine Misserfolge beim Klopapier-Hamstern damit kompensieren? Oder macht Not eben doch anfällig? Egal, dachte ich: Was man hat, hat man.

In schlechten Zeiten können auch ein paar Pfandflaschen nicht schaden. Plötzlich war der nächtliche Catwalk in weitem Bogen um den menschenleeren Kiez nicht nur das pflichtschuldig absolvierte Bewegungsminimum, sondern folgte einem höheren Sinn: Ich sammle. Je weiter ich lief, desto mehr staunte ich, wie wenig das rigide Berliner Kontaktverbot der Kulturtechnik des dislozierten Wegebiers etwas anhaben konnte.

Kaum ein Hauseingang, ein Schaufenster, eine Bushaltestelle, an dem sich nicht eine, eher zwei halbvolle Flaschen fanden. Was war hier los? Wo kamen die alle her? Feierten die immer noch alle ihre Corona-Parties? Sollten die nicht längst alle in der Quarantäne-Hölle schmoren?

Beim S-Bahnhof Yorckstraße hatte ich schon neun Bierflaschen und eine Coladose in der aus einem Dornenstrauch geklaubten Plastiktüte von Netto. So etwas wie Gier überkam mich. Plötzlich war nicht mehr der Weg das Ziel, sondern das herrenlose Leergut. Kein gläserner Rest war jetzt mehr vor mir sicher.

Schon von weitem meinte ich die Lichtreflexe versteckter Flaschenkörper schimmern zu sehen. An einem schummrigen Späti guckten die beiden Kämpen, die vor der Tür ein verbotenes Bier zischten, unsicher, als ich ihre fast leeren Flaschen mit einem Glitzern in den Augen taxierte.

Nur der Rollenwechsel vom Prekariat zum Lumpenproletariat wollte nicht recht funktionieren. Bei jedem Passanten tat ich betont unauffällig und versuchte die verräterisch klirrende Plastetasche in eine stabile Seitenlage zu bugsieren. Wenn ein Gassi-Geher samt Vierbeiner in Sichtweite einer Flasche herumbummelte, vertiefte ich mich in’s Smartfon, bis die Bahn frei war. Ich bin ja kein Flaschensammler, ich sammle nur!

Meine Profi-Kollegen, die mit dicken Taschen auf dem Fahrrad ungeniert systematisch vorgingen, mied ich. Nur am Viktoriapark ließ ich mich verleiten, einem Weg ins Dunkle zu folgen. Schließlich thronte auf einem verschmierten Papierkorb eine fette Fünfer-Corona Berliner Pilsener. Ich hatte schon die Hand ausgestreckt, als plötzlich hinter einem Busch die Scheinwerfer eines blauen Autos mit sieben silbernen Buchstaben aufblendeten.

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