Die 12. Berlin-Biennale ist ein postkoloniales Katasteramt

Eine Frau mit glasigem Blick, die Brust entblößt, in der Hand hält sie einen Schädel. Deneth Piumakshi Veda Arachchiges Arbeit „Self Portrait As Restitution“ wirkt wie ein Leitbild der 12. Berlin-Biennale. Die französische Künstlerin mit srilankischem Hintergrund posiert als Bewahrerin des Erbes der indigenen Adivasi auf der früher Ceylon benannten Insel. Der Schädel stammt aus dem Raubzug zweier Schweizer Naturforscher aus dem 19. Jahrhundert. Arachchige hat ihn aus einem der Archive befreit, in denen sie das Schicksal ihrer Ahn:innen recherchierte.

Die Biennale, auf der die Arbeit prominent zu sehen ist, gleicht einem postkolonialen Katasteramt. Ein gewisser Deja-vu-Effekt stellt sich ein, laborierte doch schon die 11. Ausgabe an demselben Thema. Alle Gräueltaten der letzten 200 Jahre Kolonialgeschichte werden auf der „Present! Still!“ betitelten Schau akribisch vermessen. Der Subtext ist „Repair“.

Der Wunsch nach Reparatur, Heilung war schon das große Thema Kader Attias im Jahr 2012. Auf der documenta 13 zeigte der 1970 in Frankreich geborene Künstler mit algerischen Wurzeln seine phantastischen Skulpturen geflickter Soldatengesichter.

So kongenial wie er damals das koloniale Trauma symbolisierte, schaffen das nur wenige der 85 Künstler:innen der von ihm kuratierten Biennale. Attia spickt seine Anklageschrift gegen den Kolonialismus nämlich mit zu vielen dokumentarischen (Beweis-)Videos. Jean-Jacques Lebel treibt diesen Realismus mit seinem peinigenden Labyrinth aus Folter-Bildern der US-Armee nach der Besetzung Bagdads 2003 auf eine problematische Spitze.

Selten übersteigen Arbeiten diesen Ansatz so faszinierend wie die orangefarbenen „Kotzmädchen“ der vietnamesisch-australischen Künstlerin Mai Nguyen-Long, die auf den Einsatz des Gifts „Agent Orange“ im Vietnam-Krieg anspielen: Eine Mischung aus Edvard Munch und Frida Kahlo.

Biennalen sind keine Wohlfühlcamps für Familiensonntage. Sie sollen experimentieren, herausfordern, neuen, auch schmerzhaften Formen der (Welt-)Wahrnehmung den Weg ebnen. In die Nähe des Traums und der Imagination, die Attia dann paradoxerweise in einem brillanten Essay zur postkolonialen Debatte als Mittel des Widerstands gegen die „algorithmische Governance“ im „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ beschwört, kommen nur wenige Arbeiten.

In Raed Mutars titellosem Ölgemälde, auf dem ein melancholisch blickender Mann seinem halbnackten Gegenüber mit grüner OP-Maske eine Infusion in den Mund tropft, spürt man so etwas wie einen Ausweg aus dem kolonialen Trauma: persönliche Nähe, praktizierte Solidarität.

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