Das schönste Dorf

10404178_10153125235233988_3356647293181582359_n„Hey, ihr glaubt wohl, ihr könnt hier einen auf 36-er machen?“ Zouhier El-Osta freut sich sichtlich, als die 30 Leute auf der Goebenstrasse bei seiner Aggro-Ansage zusammenzucken. Hehe. War nicht so gemeint. Der junge Mann mit dem coolen schwarzen Vollbart, grauem Hütchen und Kopfhörern hat nur ne kleine Hip-Hop-Performance hingelegt. Damit wir ahnungslosen Kiezspaziergänger mal sehen, wie das war, als sich genau hier die „Schöneberger Kings“ ihre Kämpfe mit den „36 Boys“ aus der Kreuzberger Naunynstraße lieferten. In der kalten Frühlingssonne stehen wir vor einem vergitterten Parkplatz.

Wenn Zouhier sich an seine Jugend während der Nullerjahre links und rechts der Potsdamer Straße erinnert, schrumpft das arrivierte Metropolenquartier plötzlich zu einem Dorf voller vergessener Geschichten, die seine Bewohner bis heute in Bann halten. „Das schönste Dorf“ ruft er im Eiscafè Vannini den Spaziergängern zur Begrüßung entgegen. „Schaut Euch mal um in unserer 30-er Zone“ nennt er die Gegend immer noch nach den alten Postleitzahlen. Auch Fadi Abdelnour will nicht mehr weg aus seinem Dorf. Der Kommunikationsdesigner aus Ramallah hat es sich seit 2010 in einem alten Holzhaus im Hinterhof eines unscheinbaren Mietshauses an der stark frequentierten Potsdamer Strasse bequem gemacht. „Es ist so wunderbar ruhig hier“ lobt er seinen friedlichen Winkel, vor dem sogar ein Feigenbaum wächst.

„Ich bin immer in der Nähe geblieben“, freut sich Claus Rechmann, der in dem Sportpalast, in dem Nazi-Goebbels den „totalen Krieg“ ausrief 1969 noch Jimi Hendrix live erlebt hat. Vor dem berüchtigten „Sozialpalast“, einem tristen Massiv aus Sozialwohnungen, der ihn ersetzt hat, macht er ein paar verträumte Tanzschritte. Zouhier El-Osta kommt immer wieder aus Lichtenrade, wohin die Familie wegen der steigenden Mieten ziehen musste, an die Potse zurück.

„Wo ist es schöner?“, frage ich Joachim Mendler, „Schöneberg oder Stadtrand?“. Eben standen wir noch mit einem seiner Kälbchen an der Stelle im Hinterhof der Steinmetzstrasse, an der der Landwirt bis 1982 den letzten innerstädtischen „Milchhof“ Berlins führte: 30 Kühe grasten im Hinterhof, 60 Mastschweine verschlangen im Keller Abfälle aus der nahen BVB-Kantine. Als der Kiez „saniert“ wurde, musste er raus. Heute sitzt der 60-jährige unter dem roten Plüschhimmel des winzigen O-Ton-Theaters, das der Act-Up-Aktivist Ichgola Androgyn 1999 in einer vergammelten Fabriketage in der Kulmer Straße gründete, isst Kuchen und nippt am Kaffee. Seine Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Rudow. Da können die Kühe raus“.

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