Der Mythos ist beschädigt. Wohin geht die documenta?

203 Porträtfotos an einer Wand: Nazi-Größen wie Goebbels und Goering hängen neben unbekannten Flakhelfern oder dem Künstler Joseph Beuys. Vor drei Jahren provozierte Piotr Uklanskis Arbeit „Real Nazis“ die Besucher der documenta in Kassels Neuer Galerie mit der Frage: Welche waren eigentlich die wirklichen Nazis? Die großen Schergen oder auch die unbekannten Mitläufer?

Nachgerade wirkt Uklanskis Werk prophetisch. Denn jetzt hat diese Frage die Weltkunstschau selbst eingeholt. Waren etwa einige der documenta-Gründerväter etwa „real“ Nazis?

Begonnen hatte alles Anfang 2019. In einer Fußnote des Katalogs der Schau „Emil Nolde – Der Künstler im Nationalsozialismus“ in Berlins Hamburger Bahnhof hatte Kurator Bernhard Fulda, Historiker in Cambridge, erstmals auf die NSDAP-Mitgliedschaft Werner Haftmanns hingewiesen. Der Kunsthistoriker war der wichtigste Berater von documenta-Gründer Arnold Bode während der ersten drei Ausstellungen.

Wenige Monate später verschärften Fulda und die Kunsthistorikerin Julia Friedrich vom Museum Ludwig ihre kritische Sicht der „grauen Eminenz“ der documenta auf einer Konferenz des Deutschen Historischen Museums (DHM) zur „Politischen Geschichte der documenta“. Sie verwiesen auf einen Aufsatz Haftmanns in der NS-Zeitschrift „Kunst der Nation“, in dem dieser den Nazis 1934 den Expressionismus als von „deutscher Art“ anpries.

Nach 1945 verbuchte er ihn als Medium europäischer Verflechtung. Den Nazi-Sympathisanten und Antisemiten Emil Nolde adelte Haftmann zu einem der inneren Emigranten, die sich im Dritten Reich angeblich wie die „Lilie vom Felde“ nährten.

Dass die politische Vergangenheit der documenta-Gründergeneration erst jetzt entdeckt wurde, stellt dem Kunstbetrieb in Deutschland ein Armutszeugnis aus.  Die NS-Nähe von documenta-Protagonisten der ersten Stunde wie Hermann Matern, Herbert von Buttlar oder Alfred Hentzen war schon länger bekannt.

Auch zu Haftmann gab es seit den siebziger Jahren Hinweise. Zu einer systematischen Durchleuchtung bequemte sich die deutsche Kunstgeschichte aber nicht, geschweige denn zu einem Diskurs.  

Die Enthüllungen markieren eine unerwartete neue Etappe deutscher Vergangenheitsbewältigung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzte dieser Tage eine Historiker-Kommission ein, um die NS-Kontinuitäten im Bundespräsidialamt zu untersuchen. Ein Hobbyhistoriker enttarnte Alfred Bauer, den Gründungsdirektor der Berlinale, als alten Nazi. Jetzt haben die braunen Schatten auch die documenta eingeholt.

Im Licht der jüngsten Erkenntnisse erscheint das Selbstverständnis der Schau als Gestalt gewordener Beweis deutscher Umkehr, als Flaggschiff des besseren Deutschland, als Motor der Wiedergutmachung gegenüber Verfemten, „Entarteten“ und der Moderne schal. Denn das documenta-Narrativ war auch ein taktisches Kalkül zur Selbstreinwaschung, Verschleierung und zur Abwehr der Vergangenheit.

Mag sich die documenta auch zu einer Schau der kritischen Weltsicht entwickelt haben. Der Mythos der documenta gründete immer auf der ethischen und ästhetischen Integrität ihrer Gründer. Nun ist er beschädigt.

Die jetzigen Enthüllungen treffen die Schau zur denkbar ungünstigen Zeit. Die Diskussion darum wird nicht nur die Arbeit des Kuratoren-Kollektivs Ruangrupa überschatten. Nach den Querelen um die documenta 14 sollte die Weltkunstschau eigentlich in eine neue Phase starten.

Mit einer neuen „documenta-Professorin“, der Übernahme des documenta-Archivs, einem neuen, mit sechs Millionen Euro üppig alimentierten „documenta-Institut“ und dem neu besetzten Fridericianum, wächst das früher bescheidene documenta-Büro zu einem ästhetisch-bürokratischen Komplex mit einer „Generaldirektorin“ an der Spitze, der sein Eigengewicht gegenüber der eigentlichen Schau entwickeln dürfte. Nun muss sie sich auch noch mit ein paar alten Nazis herumschlagen.   

In der Zangenbewegung zwischen Institutionalisierung und Historisierung hilft der documenta nur die Offensive. Ihre Erfolgsgeschichte sichert sie, wenn sie ihre Geschichte kritisch aufarbeitet. Diese Selbstbefragung sollte sie von sich aus anstoßen. Sie ist nämlich keine historiographische Pflichtübung, sondern eine eminent politische Aufgabe.

Die documenta kann sie weder an die Ausstellung zur documenta-Geschichte des DHM delegieren, die im Frühjahr 2021 eröffnen soll, noch an das documenta-Institut.  Der Superlativ „Weltkunstschau“ verpflichtet. Zusammen mit Zeitzeugen, Künstlern und Wissenschaftlern muss die documenta eine breite öffentliche Debatte anstoßen.

In Zeiten des grassierenden Rechtsextremismus wäre sie ein Zeichen dafür, dass sie die Frage nach dessen Ursachen ernst nimmt. Je rascher sie beginnt, desto besser.

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