Lewitscharoffs „Abartigkeiten“

lewitscharoff104_v-TeaserAufmacher“Darf ich nicht sagen, was ich denke?” In Interviews heute gefällt sich Sibylle Lewitscharoff in der Pose der unschuldig Verfolgten. Als ob die Berliner Autorin nicht wüsste, wie weit sie gegangen ist. Bei dieser Frau sind keineswegs “alle Sicherungen durchgebrannt”, als sie ihren Vortrag „Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“ im Dresdner Staatsschauspiel vom Stapel ließ. Das hatte die Berliner “tageszeitung” vermutet. Spätestens als Lewitscharoff sagte: “Meine Abscheu ist stärker als die Vernunft”, ging ihre Tirade so in die deutsche Kulturgeschichte ein wie eins die Thesen von Thilo Sarrazin. Hier outete sich eine christliche Fundamentalistin.

Natürlich darf Lewitscharoff jederzeit und überall ihre Skespis gegenüber der Reproduktionsmedizin äußern. Eine Schriftstellerin ihrer Sprachgewalt sollte freilich auf die Worte achten. Auch wenn sie es inzwischen halb zurückgenommen haben will: Dass die Büchnerpreisträgerin des Jahres 2013 künstliche Befruchtung als “Fortpflanzungsgemurkse” bezeichnete. Dass sie Kinder, die dem Nachwuchswunsch lesbischer Paare entspringen, als “Halbwesen” und “zweifelhafte Geschöpfe” schmähte, sprengt den Rahmen selbst einer Polemik gegen ein sensibles Thema. Vielmehr offenbaren diese Vokabeln ein moralisches Desaster bei einer öffentlichen Intellektuellen, von der man Differenzierungsvermögen erwarten kann. Sie offenbaren einen Umgang mit Sprache, der einen das Fürchten lehrt. Und ein erschreckendes Maß an Menschenverachtung.

Lewitscharoff hat in Dresden eine anfangs sensible Rede über den Umgang mit dem Tod gehalten. Und sich an den Suizid ihres Vaters und den Tod ihrer Großmutter erinnert. Die Verdrängung des Todes und die Verfügbarkeit von Leben, die Frage nach der Künstlichkeit des Lebens, all das, was mit der Reproduktionsmedizin einhergeht, ist jede kritische Nachfrage wert. Doch daraus einen Menschenzüchtungs- und Selektionswahn à la Nazis zu konstruieren, ist perfide.

Kinderlose Paare, gleich welchen Geschlechts, die über künstliche Befruchtung nachdenken, wollen die Welt nicht mit dem neuen Menschen Adolf Hitlers beglücken. Wer diese Form der modernen Medizin “abartige Wege” nennt und sie damit in die Nähe der NS-Eugenik rückt, begibt sich sprachlich selbst in deren Nähe. Von der impliziten Abwertung schwul-lesbischer Regenbogenfamilien, die darin steckt, ganz zu schweigen.

Die fatale Ähnlichkeit mit einer überwunden geglaubten Rhetorik zieht sich durch Lewitscharoffs 50, christlich durchschwiemelte Minuten lange Rede. Wer Kindern, die von einem Samenspender abstammen, das vollwertige Menschsein abspricht, teilt Leben in lebenswertes und weniger lebenswertes. Und er diffamiert damit real existierende Menschen empfindlich und herzlos. Das hat weder etwas mit dem christlichen Menschenbild zu tun, das Lewitscharoff für sich reklamiert. Noch kann man glauben, dass diese Frau Schriftstellerin ist. Zeichnet diese Spezies nicht aus, dass sie Empathie mit ausnahmslos allen ihren selbst erschaffenen Figuren zeigt? Und ähnelt Lewitscharoff mit dieser Fähigkeit letztlich nicht selbst “Frau Doktor und Herr Doktor Frankenstein”, als die sie die zeitgenössischen Reproduktionsmediziner verunglimpft?

Lewitscharoffs Tirade ist ein weiteres Indiz für einen längst nicht beendeten Kulturkampf. Den die Verfechter des Normalen, Natürlichen gegen die Abweichler und Unreinen führen. Dass das biologistische Retrovirus am Stammtisch grassiert, wundert niemanden. Dass es im Herzen der Intelligenz nistet, macht einem dann doch Angst. Mit seinen Tiraden gegen Migranten gab der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin den Auftakt. Mit seiner Attacke gegen die Homosexualität vollendete der Kulturkritiker Matthias Matussek seine Rückkehr zum Katholizismus.

Und nun will die ehemalige Trotzkistin Lewitscharoff als wiedergeborene Christin die gottgegebene Kopulationsordnung wiederherstellen. So wie sie die Erbsünde, das biblische Onanieverbot und das “natürliche Gezeugt- und Geborensein” der “Schöpfungsmythen” beschwört. Man kann sich ausmalen, dass diese Rede nicht der letzte Aufstand gegen die fortschreitende Moderne gewesen sein wird.

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