In Deutschland darf es keine Staatsräsön-Kultur geben

Wie bekämpft man den Antisemitismus nach den Mordaktionen des 7. Oktober in Israel? Der Kulturkampf, der danach ausbrach, zeigte, wie schwer sich Kultur und Politik damit tun, die Eruption des Hasses zu analysieren und zu bekämpfen – auch in den eigenen Reihen.Bestimmt nicht mit der Flucht in die martialisch intonierten Leerformeln, die der seitdem tobende Kulturkampf gebiert.

Dass die Flucht in martialisch intonierte Leerformeln Teil des Problems ist, demonstrierte die Philosophieprofessorin Judith Butler. Der intellektuelle Fixstern der akademischen Linken weigerte sich, den Terror der Hamas gegen unschuldige Israelis zu verurteilen und bestand halsstarrig und ohne Empathie für die Opfer auf der Pflicht zur „Kontextualisierung“.

Ähnlich stereotyp war die Forderung in Deutschland, die Staatsbürgerschaft nur noch an jene zu verleihen, die das Existenzrechts Israels anerkennen. Dazu verstärkte sich die ohnehin verbreitete Neigung, jede Kritik an Israel als antiisraelischen Hass zu schmähen.

Die Liste der überstürzten Reaktionen auf vermeintlich antisemitische Haltungen im Gefolge des 7. Oktober ist lang. Es traf nicht nur die jüdische Künstlerin Candice Breitz, deren Ausstellung im Saarland-Museum mit Billigung der saarländischen Kulturministerin Streichert-Clivot abgesagt wurde, weil sie sich angeblich nicht genügend von der Hamas abgegrenzt habe.

Der Boykott traf auch die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen, die jüdischen Autorinnen Susan Neiman, Deborah Feldman, Adania Shibli oder die britische Schriftstellerin A.L. Kennedy. Der jüdischen Schriftstellerin Eva Menasse warf man Israelfeindlichkeit vor, weil sie zwischen der politischen und der ästhetischen Haltung der palästinafreundlichen Autorin Sharon Dodua Otoo unterschieden wissen wollte.

Wenn jetzt dem – problematischen – Aufruf „Strike Germany“ vorgeworfen wird, er verweigere mit seiner Aufforderung zum Kulturboykott Deutschlands den für die Kultur substanziellen Dialog, ist das wohlfeil. Der überzogene Aufruf ist auch eine Reaktion auf die Verweigerung des Dialogs mit den in Deutschland teils zu Unrecht gemaßregelten Künstler:innen, die von solchen Embargos betroffen waren.

Die Sorge der, der Sympathien mit der Hamas gewiss unverdächtigen „New York Times“, dass „eine Flut abgesagter Veranstaltungen Deutschlands Ruf als Hort der künstlerischen Freiheit bedroht“ ist also nicht ganz von der Hand zu weisen.

Der israelische Philosoph Moshe Zuckermann kritisierte einst Israels Politik gegenüber den Palästinensern als „Barbarei eines illegalen Okkupationsregimes“. Wiederholte der Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender diese Kritik heute in Deutschland, müsste er wohl mit der Absage seines nächsten Vortrags rechnen.

Generalverdacht, Ende der Debatte, Cancel Culture. In diesen Reflexen offenbart sich derselbe Rückzug in hermetische Lager wie bei dem Streit um die documenta fifteen im vorvergangenen Jahr – in dem einen verschanzten sich die Freunde des Globalen Südens, in dem anderen die unerbittlichen Anti-Antisemit:innen.

So rigide, wie sie derzeit geführt wird, läuft die Debatte auf einen bedenklich verengten Diskurs hinaus. Ungefähr wie zu Zeiten des RAF-Terrors, wo die leiseste Gesellschaftskritik mit einer Distanzierung von Baader, Meinhof&Co eingeleitet werden musste.

Zeiten, in denen antisemitisch motivierte „Vorfälle“ und Straftaten jedes Jahr auf neue Höchstzahlen klettern, verlangen nach mehr als Ermahnungen. Der jüngste, glücklicherweise bald wieder zurückgenommene Move des Berliner Kultursenators Joe Chialo (CDU), die Definition zum Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zur Vorbedingung der staatlichen Kulturförderung zu machen, die Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzt, dürfte aber auf einen ähnlichen Automatismus wie in den siebziger Jahren hinauslaufen.

Joe Chialo gelang damit das Paradox, eine Definition zur Weisheit letzter Schluss erklären zu wollen, die die IHRA selbst als vorläufig, als „Arbeitsdefinition“ versteht und von der selbst einige ihrer Erfinder sagen, dass sie ob ihrer Vagheit die Rede- und Meinungsfreiheit unterdrücken und begrenzen könnte.

Und er glaubte, die Debatte über die konkurrierende „Jerusalemer von der Definition“ quasi auf dem Verordnungswege abwürgen zu können, statt einen Dialog mit der Zivilgesellschaft und den Kulturinstitutionen darüber in Gang zu setzen, welche Maßnahmen am besten gegen Antisemitismus schützen.

Chialo muss sich vorwerfen lassen, dass er mit seinem überstürzten Vorgehen dazu beigetragen hat, dass sich der Aufruf wie „Strike Germany“ überhaupt erst entwickeln konnte, mit dem über 1000 Kulturschaffende aus aller Welt zu einem Kulturboykott Deutschlands aufrufen, weil sie glauben, dort gäbe es eine flächendeckende Zensur. – was so pauschal nicht stimmt.

Politische Hassreden und Produkte der künstlerischen Imagination können nicht an derselben, noch dazu von der Politik oktroyierten Schablone gemessen werden. Wenn jetzt auch noch die documenta-Verantwortlichen auf die Idee kommen, Chialos nun ad acta gelegte Formel zu einer Art Präambel künftigen kuratorischen Handelns in Kassel zu machen, in dem sie die von einer Beratungsgesellschaft vorgeschlagenen „Codes of conduct“ für die künftige Geschäftsführung der Schau und deren Kuratorische Leitung mit ähnlichen Klauseln füllen, ist die ohnehin angeschlagene Schau endgültig erledigt.

Es läuft dem Wesen der Kunst zuwider, auf ideologische Vorgaben festgelegt zu werden. Gerade in Deutschland darf es keine „Staatsräson“-Kunst, geschweige denn eine „Staatsräson“-documenta geben.

Zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört nicht nur die Absage an den Antisemitismus, sondern auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es gibt keinen Ausweg aus dem „Skandal der freiheitlichen Ordnung“ (der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers), dass die Kunstfreiheit und das Zensurverbot des Grundgesetzes auch Meinungen schützen, die dieser Gesellschaft aus guten Gründen nicht gefallen – rassistische oder antisemitische eingeschlossen. Die Grenze des Hinnehmbaren regelt das Strafrecht. Das schon jetzt Aufrufe zur Volksverhetzung, Rassenhass und gruppenspezifische Formen der Menschenfeindlichkeit unter Strafe stellt.

Es bedarf keiner zusätzlichen juristischen Leitplanken, die zwangsläufig die Gefahr bergen, die Kunstfreiheit einzuengen: Einerseits durch vorauseilende Selbstzensur, andererseits durch eine Regelabfrage oder dem Verfassungstreue-Check eingeladener Künstler:innen analog zu der von Beamten. Es bedarf vielmehr einer wachsamen Zivilgesellschaft, die sich, wie in Kassel vor anderthalb Jahren, zu Wort meldet, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht.

In der Hitze der jetzigen Debatte droht das berechtigte Beharren auf einer Abgrenzung vom Hamas-Terror und der Verteidigung des Existenzrecht Israels in ein leeres Ritual umzuschlagen: das blinde Schwingen der Antisemitismus-Keule und einen proisraelischen Bekenntniszwang.

Der in Sonntagsreden gern beschworenen Streitkultur und dem leider wohl nie endenden Kampf gegen das zivilisatorische Grundübel Antisemitismus ist mit schnell auswendig gelernten Bekenntnisformeln, die die Folge solcher Gebote wären, aber wenig gedient. Sondern nur mit einer offenen Debatte ohne Tabus über dessen Entstehungsgründe und Erscheinungsformen. Wo, wenn nicht in der Kultur, in der Kunst sollte sie geführt werden? Dazu muss sie frei bleiben.

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