Saudi-Arabien klotzt mit der größten Kulturoffensive der Kulturgeschichte seit den Medici. Rezension des Buches „Art in Saudi-Arabia. A New Creative Economy?“

„I was stunned“. 2022 traute die Künstlerin Halla bint Khalid ihren Augen nicht. Am Abend des 22. August hatten die saudi-arabischen Behörden Ashraf Fayadh freigelassen.

Nur geballter internationaler Protest hatte den Künstler, Kurator und Poeten 2015 vor der Todesstrafe gerettet. Seine islamkritische Kunst galt den Religionsgerichten als Indiz für den Abfall vom Glauben. Mit seiner Freilassung aus dem Gefängnis hatte niemand mehr gerechnet.

Rebecca Proctor und Alia Al-Senussi erwähnen in ihrem Buch über die saudische Kulturrevolution, die Kronprinz Bin Salman seinem Land 2016 unter dem Titel „Vision 2030“ verordnete, die aufsehenerregende Entscheidung, um deren Ambivalenz zu unterstreichen.

Als Indiz für eine Zivilisierung des Regimes in Saudi-Arabien taugt Fayads ein Jahr zurückliegender Fall dennoch nicht. Dem strategisch inszenierten Aufbruch zu mehr Freizügigkeit standen dort 2023 170 Hinrichtungen gegenüber, 23 mehr als im Jahr zuvor. Eine zivilisatorische Vision sieht anders aus.

Es spricht für den ersten zusammenhängenden Insiderinnenbericht der saudischen „Schocktherapie“ (US-Professor Bernard Haykel), dass seine Autorinnen deren Schattenseiten nicht verschweigen. Auch wenn sie nicht gerade zu den Speerspitzen des investigativen Journalismus zählen.

Proctor ist Ex-Chefredakteurin des Hochglanz-Magazins Harper’s Bazaar Art; Al-Senussi, eine libysche Prinzessin, bewegt sich in der lukrativen Grauzone der internationalen Art-Entrepreneurs, sie hat die Art Basel beraten und das saudische Kulturministerium.

Immerhin hat sie über das Thema promoviert. Den mutmaßlichen, königlichen Auftragsmord an dem Blogger Jamal Khashoggi erwähnen die Autorinnen explizit. Dennoch sympathisiert das Duo mit der „Vision 2030“.

Ihr Argument: Die unüberschaubare Kette von Biennalen, Festivals, Autorennen und futuristischen Wüstenstädten könnte eine Kreativwirtschaft initiieren, die Saudi-Arabien den Weg in eine postfossile Zukunft eröffnet.

In Dubai und Katar setzten die Herrschenden mit ihrer milliardenschweren Kulturklotzerei auf Prestige, in Saudi-Arabien auf die Aktivierung der Gesellschaft. Das habe eine soziale Dynamik in Gang gesetzt. Auch wenn die Autorinnen als zentralen Widerspruch der Vision ausmachen, dass sie Freizügigkeit propagiert, aber unter strikter Kontrolle des Staates steht.

Das mitunter etwas „visions“-selige Buch überzeugt immer dann, wenn die Autorinnen die Verhältnisse konkret beschreiben: Die Werden der Szene in den sechziger Jahren, in denen Künstler:innen wie Mounirah Mosly oder die 1940 geborene Safeya Binzagr auf den Plan traten, die heute den Ehrentitel „Mutter der saudischen Kunst“ trägt.

Sie beschreiben die Gründung der ersten saudischen Kunstschulen 1960; wie Mohamed Farsi, der Bürgermeister von Dschidda, 1974 einen Art-Boulevard aus 400 Skulpturen in der Hafenstadt installieren ließ; dass ausgerechnet die westliche Konzeptkunst in Saudi-Arabien gedieh, weil sich mit ihr das islamische Bilderverbot umgehen ließ.

2002, ein Jahr nach dem Attentat auf die New Yorker Twin Towers, gründeten Künstler um Abdulnasser Gharem und Ahmed Mater die Kunstbewegung „Shatta“. Sie wollten eine saudische Kunst jenseits der Adaption des westlichen Modernismus begründen. Das salmanische „Kunstwunder“ ist also nicht vom Himmel gefallen.

1979 geriet diese autochthone Szene unter den Druck der „Zwillingsrevolution“: Dem konservativen Backlash nach dem Attentat des islamischen Fundamentalisten Dschuhaiman auf die Große Moschee von Mekka 1979 und der Revolution Khomeinis im Iran.

Halla Bint Khalid erzählt, wie sie als Schulkinder damals die Bilder von Menschen und Tieren aus ihren Büchern eliminieren mussten. Was fast 30 Jahre verfolgt wurde, traut sich heute wieder ans Licht der Öffentlichkeit.

Derlei Ambivalenzen steht freilich weiterhin eine mehr als miserable Menschenrechtsbilanz in Saudi-Arabien gegenüber. Da bleibt es rechtfertigungsbedürftig, wie sich die deutsche Kuratorin Ute Meta Bauer dazu hergeben konnte, die zweite Ausgabe der 2021 gegründeten Diriyah-Biennale zu kuratieren, die Mitte Februar in Riad ihre Toren öffnet. Auf das Paradox einer „Kunstfreiheit“ in einer Diktatur, die ihre Gegner notfalls hinrichtet, darf man gespannt sein.

Art in Saudi Arabia. A New Creative Economy? By Rebecca Anne Proctor with Alia Al-Senussi. Lund Humphries, London 2023, 130 Seiten, 19,99 Pfund (23 Euro) 

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