Erdoğans Kulturrevolution

3-formatOriginalSpeertragende Wächter, Krieger in schimmernden Kettenhemden und Soldaten mit Goldhelmen. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas staunte nicht schlecht beim Staatsbesuch vergangenes Jahr in der Türkei. Auf der Freitreppe seines funkelnagelneuen Präsidentenpalastes in Ankara hatte Präsident Erdoğan 16 kostümierte Soldaten antreten lassen – lebende Symbole der 16 Sterne seines Siegels, die für die 16 anatolischen Reiche stehen.

Machthunger und Großmannssucht, das zeigte die Szene, treiben den Muslim, der es aus einem Istanbuler Proletarierbezirk an die Spitze der Republik in Ankara geschafft hat, gewiss. Doch auch wenn er Freiheit und Gerechtigkeit zum Teufel wünscht, dem Verfassungsgericht droht, gar Hitler-Deutschland zum Vorbild erklärt. Nur ein jähzorniger Autokrat ist er nicht. Erdoğans Obsession mit Symbolen belegt, wie zielstrebig er sein eigentliches Ziel verfolgt: Eine Kulturrevolution.

Ob er vor drei Jahren den Gezi-Park für eine Shopping-Mall im Stil einer alten osmanischen Kaserne umzupflügen versuchte, von der aus islamistische Militärs 1909 gegen die Jungtürken putschten. Oder ob er seinen neuen Palast in Ankara demonstrativ auf eine, von Staatsgründer Atatürk zum Staatsforst bestimmte Grünfläche bauen ließ.

Spätestens als er den Palast „Külliye“ taufte, den traditionellen Komplex aus Schulen, Küchen und Gästehäusern um eine Moschee, war klar, wohin die Reise gehen soll. 2023, im Jahr des 100. Jubiläums der Staatsgründung, soll ein religiös basierter Führerstaat den demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaat abgelöst haben, den die Verfassung vorsieht. An ihrer Spitze: Kalif Erdogan.

Den Keim für diesen Retrovirus freilich hatte die Atatürksche Kulturrevolution selbst gelegt. Über Nacht schnitten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts dessen Reformen das Land gewaltsam von seiner Jahrhunderte alten Geschichte und Kultur ab. Jetzt kehrt das Verdrängte zurück. Das System Erdoğan ist der – brutalste – Ausdruck des Drangs, das Land an seine kulturellen Quellen zurück zu binden, Rache für 1923 zu nehmen – das Jahr der Republikgründung.

Dass Erdoğan seine Mission in seinem 1000-Zimmer-Palast unter einem riesigen Porträt Atatürks vorantreibt, ist keine geschickte Tarnung, sondern ein folgerichtiges, symbolisches Paradox. Denn von Mustafa Kemal hat er sich die Erziehungsdiktatur abgeschaut, mit der er dem Land nun eine osmanische Rolle rückwärts verordnen will.

Erdoğan s wiederkehrende Begründungen für den angestrebten Wechsel zur Präsidialrepublik klingen wie bei diesem abgeschrieben: „Ich habe daher entschieden, daß die Türkei eine autoritäre Republik sein soll, die von einem mit der umfassendsten Exekutivmacht versehenen Präsidenten regiert wird“ entschied der 1923 beim Streit über die Staatsform der Neuen Republik.

So wie sich sein ungeliebter Vorgänger als strenger Lehrer gerierte, der den Menschen vor einer Schiefertafel das lateinische Alphabet einbläute, lehrt Erdoğan Kurden und Demonstranten mit vorgehaltener Tränengaspistole Mores, stellt beim Sonntagsspaziergang einen Raucher zur Rede, beschwört die „heilige Pflicht“ der Frauen, der Nation mindestens drei Kinder zu gebären.

So gesehen ist der Fall Erdoğan lehrreich: Stellt er doch die Rache der Geschichte für eine autoritäre Modernisierung dar. Seine Herrschaft markiert die blutige Implosion einer der großen Revolutionen aus Eric Hobsbawms abgelaufenem „Jahrhundert der Extreme“. Und die dringendste Aufgabe derzeit ist es, die Nebenwirkungen dieses Zerfalls in Gestalt von Erdoğans gespenstischem Cäsarenwahn einzudämmen.

Das späte Scheitern der türkischen Revolution belegt aber auch, dass Demokratie und modernes Leben in traditionellen Ländern nicht auf Befehl wachsen, sondern nur von unten. Vor dieser Aufgabe steht das Land, sollte Erdoğan eines Tages abtreten müssen. Dieser neue Aufbruch zur Moderne am Bosporus braucht aber auch eine neue Symbolpolitik.

Sie muss Menschen Lebensweisen anbieten, statt sie zu oktroyieren. Und sie muss attraktive Symbole kreieren, statt immer nur das ausgeblichene Bild des türkischen Übervaters mit Fellmütze hoch zu halten. Wie es die republikanische Volkspartei CHP mit ihrem garantiert charismafreien Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu immer noch tut.

Oder mit seinen „sechs Pfeilen“ zu wedeln, zu denen bekanntlich genau der Nationalismus gehört, den Erdoğan gerade wieder blutig entfacht. Mit dem hatte die temporäre Republik Gezi nichts am Hut. Ihre Symbole wurden ein tanzender Derwisch, die Frau in Rot und eine Regenbogenfahne.

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