ESC : Die politische Kraft des ästhetischen Moments

urn-newsml-dpa-com-20090101-160515-90-000460_201605150919_full„Ist dieses Europa-Singen jetzt endlich rum?“. Mit diesem genervten Post mokierte sich vergangenes Wochenende der SPD-Europaabgeordnete Jens Geier auf seinem Facebook-Account über das Ende des European Song Contest (ESC). Nun sind persönliche Geschmackspräferenzen das eine. Niemand kann Jens Geier zwingen, das was man früher etwas abschätzig „Schlager“ nannte, zu mögen. Es gibt jede Menge illustre ESC-Verächter. Der Essener Abgeordnete sitzt auch nicht wegen Kunst und Kultur im Europäischen Parlament, sondern wegen so wichtiger Fragen wie dem europäischen Haushalt, wegen der Industrie- und Energiepolitik.

Aber es ist schon erstaunlich, dass ein Volksvertreter so wenig mit populärer Kultur zu tun haben will. Immerhin verfolgen fast 200 Millionen Menschen in aller Welt, nicht nur im Brüsseler Kerneuropa, das Spektakel jedes Jahr. Noch erstaunlicher ist, dass ein Vertreter der politischen Formation erkennbar dieses kulturelle Massenereignis nicht zur Kenntnis nahm, die sich müht, die kulturelle Hegemonie in einem Europa wiederzugewinnen, das immer weiter nach rechts abdriftet.

Mag sein, dass der ESC bislang weder viel gegen Wladimir Putin oder Viktor Orbán ausrichten konnte. Könnte es dennoch sein, dass die viel beschworene Krise des europäischen Bewusstseins auch etwas damit zu tun hat, dass die progressiven politischen Kräfte so wenig kommunikationsfähig mit und in den Formen der zeitgenössischen „Massenkultur“ sind, so nannte Hilmar Hoffmann, der legendäre SPD-Kulturdezernent von Frankfurt am Main, dergleichen Manifestationen schon in den siebziger Jahren.

Durch seine bloße Existenz, die Public Viewings, seine bei Käse-Igel und Sekt zelebrierten Zusammenkünfte, dürfte der ESC mehr europäisches Bewusstsein bilden als das Europäische Parlament und die Europäischen Sozialisten mit ihren Entschließungsanträgen in den letzten zehn Jahren zusammen.

Unter künstlichen Lichtblitzen, gleißenden Lichtsäulen und waberndem Disconebel entsteht ein Europa, das Aserbeidschan, die Türkei und Russland umfasst und nicht nur den christlichen Club oder das Schengen-Europa. Und dieser vokalen Schaumgeburt entsteigen immer wieder die erstaunlichsten politischen Akteure.

2004 wurde die ukrainische ESC-Siegerin Ruslana zur Galionsfigur der Orangenen Revolution. 2014 setzt Tom Neuwirth alias Conchita Wurst einen hinreißenden Kontrapunkt zu dem Österreich der Natascha Kampusch und von Josef Fritzl, wuchs zur polysexuellen Galionsfigur der europäischen LGBT-Bewegung. Mag der Siegestitel in diesem Jahr auch kitischig und pathetisch gewesen sein.

Der Ukrainerin Jamala gelang es, mit einem Protestsong, das Schicksal der von den Russen im zweiten Weltkrieg deportierten Krimtartaren auf die politische Agenda zu heben. Gegen sie wirkt Jens Geier, wenn er sich auf einem You-Tube-Clip „klare Worte“ gegen das TTIP-Abkommen abringt, oder mit dem Bergmannschor in Dinslaken das Steigerlied singt, wie die der schwergängige frontman eines verzagten Reformjazz.

Das Ziel einer linken Volksbewegung, so verteidigte einmal die belgische Politologin Chantal Mouffe den Populismus, müsse es sein, mit „Leidenschaft einen kollektiven Willen“ zu formen. Die EU-Kommission hat zwar eine teure, von vielerlei Prominenz beschwerte, aber vollkommen resonanzlose Konferenzserie „A Soul for Europe“ ins Leben gerufen.

Doch wann genau ist uns zum letzten Mal ein europäischer Volksvertreter, eine europäische Parlamentarierin aufgefallen, die in gleicher Weise die Köpfe und die Herzen für eine politische Idee, irgendein Projekt, geschweige denn eine „EuroVision“ zu mobilisieren vermochte hätten wie die ESC-Stars?

Die mangelnde Nachhaltigkeit solcher Auftritte ist kein Argument gegen die politische Kraft dieser ästhetischen Momente. Wie man schon daran sehen kann, dass Konstantin Kosatschow, Chef des Auswärtigen Ausschusses des Russischen Oberhauses, Jamalas Erfolg umgehend als „Sieg des Kalten Krieges“ geißelte.

Es ist ein Indiz für die Krise der Politik, dass sich gerade Kunst und Kultur als die bessere, eben: als die leidenschaftlichere Politik erweisen. Kein Wunder, dass die singenden EuropäerInnen das Motto des alten Kontinents längst umgemünzt haben. Sie skandieren jetzt Liberté, Egalité, Beyoncé.

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