Jenseits des binären Codes

main Ein weißer Quader, wie aus dem Bilderbuch des architektonischen Minimalismus. Darinnen ein Labyrinth verschachtelter Räume, das Ganze aufgestellt in einem öffentlichen Park. „Cruising Pavillon“ nannte das Künstlerpaar Elmgreen & Dragset 1998 seine Installation in Aarhus. Mit ihr visualisierte es das Paradox, dass die schwule Subkultur ihre intimen Räume oft genug dadurch gewinnt, dass sie „straighte“ Kontexte umfunktioniert.

Die Chance, dass die beiden Künstler im Herbst ein ähnliches Werk in Istanbul aufstellen, ist denkbar gering. Für ein so doppelbödiges wie anstößiges Werk ist das kulturelle Klima in der Türkei derzeit vermutlich zu angespannt. Aber die frappierende Dialektik, mit der das Künstlerpaar gern arbeitet, könnte ihnen bei Ihrem aktuellen Job von Nutzen sein. Anfang September eröffnen die beiden nämlich die 15. Istanbul-Biennale – diesmal als Kuratoren.

„A good neighbour“ – das Thema, das die beiden zu deren Motto erkoren haben, hat ein gemischtes Echo hervorgerufen. Die einen tun es als „Wohlfühl-Motto“ (FAZ) ab. Die anderen loben es als Doppelstrategie. Im Tarnanzug eines konsensfähigen Wunsches ließen sich durchaus kritische Fragen in den türkischen Diskurs schmuggeln. Sind die Türken tatsächlich „gute Nachbarn“? Nach innen wie nach außen?

Das niederschmetternde Ergebnis des Referendums vom 16. April hat die Künstler-Kuratoren offenbar nicht zu einer Korrektur seiner Strategie der affirmativen Kritik bewegt. Angesichts der aufgeheizten Stimmung am Bosporus klang es zwar wie eine „mission impossible“, als sie am Wochenende in Berlin die Biennale als Ort anpriesen, auf der sich Besucher jenseits des binären Codes „Pro“ oder „Contra Erdoğan“ positionieren können.

Doch auch wenn der Kunsthistoriker Gürsoy Doğtaş kürzlich in der Süddeutschen Zeitung das Narrativ von der Istanbul-Biennale als dem Ort der „kritischen Gegenöffentlichkeit“ bestritt. Nach dem, mit dem Stigma des Wahlbetrugs befleckten Pyrrhus-Sieg des regierenden Autokraten könnte die Dialektik darin bestehen, die Biennale als Resonanzboden für den Unmut zu nutzen, der nach dem knappen Votum auch in konservativen Kreisen schwelt. Gegen die offene Diktatur, die in der Türkei nun droht, hülfe das womöglich nachhaltiger, als ein starkes, medienwirksames Statement Statement dagegen.

„Wir wollten nie einen normalen Job machen“ erklärten Elmgreen & Dragset, die es vor über zwanzig Jahren „eher zufällig“ in die Kunst verschlug, einmal ihre Leidenschaft für spektakuläre Projekte. In Istanbul dürfte sie auf die ultimative Probe gestellt werden. Denn was ist die türkische Szenerie derzeit anderes als ein darkroom der politischen Leidenschaften?

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