Schwarz-grau gefleckt, den Kopf leicht nach unten geneigt. Ich war gerade auf dem Weg zum Supermarkt, als ich plötzlich diese Krähe auf dem Dach der parkenden roten Limousine sitzen sah. Krähe, genau. Eines dieser Exemplare aus der Familie der Rabenvögel, die im Hinterhof neuerdings Mülltüten zerlegen. Sie plusterte sich auf, rutschte mit ihren Klauen auf dem spiegelglatten Dach nach vorne. Und zwar so selbstverständlich, als sei ich derjenige, der sich zu erklären hätte.
Auch als ich näherkam, machte der Vogel keine Anstalten, seine Flügel auszubreiten und zu verschwinden. Diesen Ritus der Distanznahme beherzigen selbst die Spatzen, die meinen Balkon als Boxenstopp bei ihren Sturzflügen durch die urbanen Schluchten nutzen, obwohl sie spätestens seit dem Tag keinen Feind mehr in mir erkennen, an dem ich eine stets mit frischem Wasser gefüllte Schale auf den Tisch gestellt hatte, in der sie ausgiebig baden können.
Einen Moment fühlte ich mich wie Tippi Hedren in Hitchcocks „Die Vögel“, als sie einer Schar der Lufteroberer zu entkommen sucht, die sich um ihr Wochenendhaus gesammelt haben. Schließlich besann ich mich, stellte meine Taschen ab und sah ihr fest ins Auge. So wie man einen Tiger im Ansprung mutig anschauen soll, um ihn zu beeindrucken. Sie zuckte mit keinem Schlag ihres hornigen Lids.
Ich war seltsam angefasst von meiner klammheimlichen Furcht vor einem Vogel, der kaum halb so groß wie mein Kopf war. Aber auch konsterniert von dieser Schrecksekunde interspezieller Fremdheit. So sieht es also aus, wenn man mit der Kreatur auf Augenhöhe ist: Lauern und ein Ozean des Nicht-Verstehens. Benommen schlich ich weiter. Als ich mich umdrehte, sah auch mir die Krähe nach.
Seit Beginn des Coronozäns, so die Sage, sollen die Tiere wieder die Kontrolle über die Zivilisation übernommen haben. Das war natürlich romantischer Unsinn. Mit Ausnahme der Herde wilder Kaschmir-Schafe vielleicht, die das walisische Seebad Llandudno geentert hatten. Aber die Delfine, die wieder durch Venedigs Kanäle oder durch den Bosporus tollten, waren Memes.
An das neue Reich der Tiere glaube ich erst, wenn ich Delfine im Landwehrkanal sehe, Katzen auf der Admiralbrücke Musik machen und die Ameisen Wahlrecht haben. Doch irgendwie war die Fauna schon anders präsent. Lag es nur am fehlenden Autolärm oder schickten die Vögel, die mich im Morgengrauen immer wecken, ihre Zwitscherwolken selbstbewusster als sonst in den Äther?
Bei meinen mitternächtlichen Spaziergängen passierte ich immer eine Pappelgruppe am Rande eines Bolzplatzes, in der sich Nachtigallen einen Arien-Disput lieferten. Und wie angewurzelt blieb ich stehen, als ich auf der Brücke über den Ausläufern des Gleisdreieck-Parks plötzlich das nebelhornähnliche Staccato einer Eule zu hören meinte.
Auch wenn ich sie nicht verstand: Tiere schienen mir in diesen Tagen die ungefährlicheren Date-Partner. Sie brachten mir eine gewisse Zuneigung entgegen, ohne mir gefährlich nahe zu kommen. Nicht alle verstanden meine Annäherungsversuche. Der Fuchs, den ich nachts neben einer Elektroauto-Ladestation dabei traf, wie er sein Terrain scannte, trollte sich indigniert, als ich mit über den Kopf gezogenen Hoodie vor ihm auf die Knie ging wie vor 46 Jahren Joseph Beuys vor einem Koyoten in New York.
Zur wahren Freundin wurde mir die braun gemusterte Hauskatze, die vor dem geöffneten Fenster einer Erdgeschoßwohnung saß und mich jede Nacht mit großen grünen Augen erwartete. #safethedate flüsterte ich ihr zu. Neugierig schnupperte sie an mir, wandte den Kopf und verschwand hinter den wehenden Gardinen in das rötlich schimmernde Boudoir dahinter. Hinter mir rauschte eine leere S-Bahn durch die Nacht.
Was hat er denn bloß getan? Die rhetorische Frage wirft auf, wer besonders
nachdrücklich sagen will, dass jemand zu Unrecht einer Straftat bezichtigt
wird. Die jüngste Solidaritätskampagne für den inhaftierten türkischen Mäzen
und Philanthropen Osman Kavala mit diesem Titel zu überschreiben, ist mehr als
naheliegend. Schließlich haben schon Gerichte in der Türkei festgestellt, dass
er sich nichts zu Schulden hat kommen lassen.
Mittlerweile sitzt der 1957 in Paris geborene Sohn einer
türkischen Industriellenfamilie seit fast 1000 Tagen im berüchtigten Gefängnis
von Silivri. Die 2008 eröffnete Justizvollzugsanstalt, einer der größten
Gefängniskomplexe Europas, rund 70 Kilometer entfernt von Istanbul, fungiert als
der Ort, in dem Gegner des türkischen Regimes arretiert werden.
Neben dem „Welt“-Journalisten Deniz Yücel, der dort von 2017 bis
2018 festsaß, sind dort schon seit 2016 auch Ahmet Altan, der bekannte Schriftsteller
und Chefredakteur der Zeitung „Taraf“ oder seit 2018 Eren Erdem, ein Politiker
der oppositionellen CH-Partei inhaftiert. Mittlerweile sitzen in Silivri weit
mehr als die 10000 Gefangene ein, für die der Komplex konzipiert ist.
Osman Kavala ist einer der wichtigsten Förderer der türkischen
Zivilgesellschaft. Mit seiner Stiftung „Anadolu Kültür“ mit Sitz in Istanbul
und im kurdischen Diyarbakir unterstützt er vor allem kulturelle Projekte. In
Istanbul unterhält er zudem den Projektraum „Depo“, einer Kombination aus
Ausstellungshalle und Menschenrechtszentrum.
Präsident Recep Tayyip Erdogan war der „rote Millionär“ schon lange ein
Dorn im Auge. Der türkische Despot wirft ihm vor, die Proteste im Istanbuler
Gezi-Park 2013 orchestriert zu haben sowie am Putschversuch vom 15. Juli 2016
beteiligt gewesen zu sein. Deswegen ließ er ihn 2017 bei der Rückkehr von einem
gemeinsamen Projekt mit dem deutschen Goethe-Institut verhaften. Für beide
Behauptungen gibt es bis heute keinerlei Belege.
Wegen dieser Sachlage entschied im Herbst 2019 der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte, Kavala müsse sofort freigelassen werden. Die Urteile des
Hofs sind für die Türkei eigentlich bindend. Als daraufhin ein türkisches
Gericht anordnete, Kavala frei zu lassen, schob die Justiz im Land flugs einen
Spionagevorwurf nach. Seitdem muss Kavala weiter in Silivri brummen.
Der Europaabgeordnete Nacho
Sánches Amor, Türkeiberichterstatter des Europäischen Parlaments, nannte
während eines internationalen Zoom-Meetings Ende April, bei dem Freunde und
Unterstützer*Innen Kavalas über das weitere Vorgehen berieten, den Fall einen
„Lackmustest“ für das Land.
Zusammen mit dem Filmemacher
Fatih Akin hatte Shermin Langhoff, die Intendantin des Berliner
Maxim-Gorki-Theaters, während der Online-Beratung eine Kampagne angekündigt,
die seit Mitte letzter Woche nun über alle Social-Media Kanäle flimmert. „Artists United for Osman Kavala“ nennt
sich die Community, die das internationale Bewusstsein für den Fall weiter
schärfen will.
Unter dem Motto „What
did Kavala do? – Was hat Kavala getan?“ veranschaulichen Künstler, Politiker
und Vertreter der Zivilgesellschaft in täglichen Videobotschaften Kavalas
Hingabe an Kultur und soziale Kooperation und seine Rolle für die
Zivilgesellschaft in der Türkei.
„Ich wünschte, es
gäbe mehr Osman Kavals auf der Welt“ lobt der türkische Schriftsteller und Komponist
Zülfü Livaneli seinen Freund Osman Kavala. Für Edzard Reuter, Ex-Daimler-Chef
und Türkei-Freund, sitzt Osman Kavala nur im Gefängnis sitzt, weil er „eine
andere Meinung hat als sein Präsident“. Die schwedische Diplomatin Andrea
Karlsson lobte Kavalas einzigartige „Fusion von Kunst, Aktivismus,
Menschenrechten und Demokratie“.
Langhoff und Akin heben Kavals „moralischen Mut“ und den „Glauben
an Kunst als Möglichkeit für Begegnungen und Dialoge“ hervor. „Er ist unser
Vorbild. Wir werden nicht aufhören, bis er frei ist“. Schwer zu sagen, ob
ihre Botschaft die politisch Verantwortlichen erreicht. Außenamts-Staatsminister
Michael Roth Forderung „das EMGR-Urteil sofort umzusetzen“ hat das Regime in
Ankara wenig beeindruckt.
Mehr Druck bei dem Ringen um das Schicksal Osman Kavalas wollen nun auch internationale Intellektueller machen. Eine Gruppe um den US-Linguisten Noam Chomsky, den französischen Philosophen Étienne Balibar und den Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments, Dimitris Papadimoulis, hat den Mäzen für den Vaclav-Havel-Preis für Menschenrechte vorgeschlagen.
Der alljährlich von der Parlamentarischen Versammlung des Europa-Rats vergebene Preis soll am 12. Oktober in Strasburg vergeben werden. Noch ist es schwer vorstellbar, dass Kavala den Preis dort persönlich entgegen nehmen wird können.
„Herrlich“ antwortete ich bis vor kurzem immer, wenn mich Freunde fragten, wie es mir denn so gehe „in diesen Tagen“ und erntete dann meist ein süßsaures Lächeln. Aber ehrlich, kein Zynismus. Als die ersten Bleib-zu-Hause-Orders den Beginn des Corozäns ankündigten, hatte mich das kein bisschen geschreckt.
Gut, Ausgangssperre war natürlich eine hässliche Vokabel. Die kannte man eigentlich nur so aus Diktaturen und den Bürgerkriegs-Reportagen im Fernsehen. Ich habe sie mir dann einfach zur Auszeit zurechtgebogen.
„Das ist unser Krieg“ beschied mich mein Bruder pathetisch am Telefon. Fand ich übertrieben. Das waren doch super Aussichten. Endlich stand die Maschine mal still. Endlich mal hätte man nicht das Gefühl irgendwas zu versäumen, irgendwo präsent sein, irgendwem nachjagen zu müssen. Schließlich fand ja nichts statt.
Eigentlich fing es ganz gut an. Ich kaufte ein paar Vorräte, erklärte mein Appartement zum geistigen Hochsitz, legte mir einen Stapel Bücher von Agamben wie Ausnahmezustand bis Zorro wie Maske zurecht. Streng absolvierte ich meine selbst auferlegten Routinen. Stand nie zu spät auf, trank keinen Alkohol.
Ging selbst dann noch morgens zur Post, als die Filiale nur noch Obdachlose beherbergte. Hielt mich an mein Schreibpensum. Volle Konzentration auf die Lage, alles wollte ich gründlich durchdenken, kein Krisenzeichen sollte mir entgehen.
Und siehe: Wundersam flossen die Ereignisse und Gedanken in meinem Weltinnenraum zusammen. Der Weltaußenraum freilich schrumpfte. Auch wenn ich noch so oft das unermessliche Tempelhofer Feld umrundete, auch wenn ich nachts bis tief nach Alt-Mariendorf vorstieß. Und selbst bei weiten Ausflügen kam ich nirgends richtig an.
Die Freundin, die für die Balkon-Aktion der Künstler*Innen in Prenzlauer Berg eine Strickleiter aus Fundholz von ihrem Balkon baumeln ließ, konnte mir nur von oben zuwinken. Das Gorki-Theater, wohin ich schon vor dem Coronozän immer zu Fuß zur Premiere lief, war geschlossen. Und wie lässt man einen Drachen steigen, wenn drei Leute zwei Meter Abstand zueinander halten müssen.
Unmerklich begann sich das Korsett der Hypernormalität zu lockern. Wozu Staub wischen, fragte ich mich, wenn doch niemand zu Besuch kommen konnte. Konnte die Relektüre von Thomas Manns „Tod in Venedig“ nicht auch bis morgen warten? Oder übermorgen? Wozu durch Dating-Apps surfen, wenn unter jedem Profilbild #stayhome prangte? Der Mensch lebt nicht von nude pics allein.
Wann genau kam dann der Moment, als sich das Kammerspiel der Konzentration und Inspiration in eine zähe Elegie auflöste? Als ich den Freak im Schneidersitz auf der Bergmannstraße in eine urbane Leere starren sah, die ihm nicht antwortete? Als ich nicht mehr wusste, ob ich die Freundin, die ich auf dem Wochenmarkt regelmäßig zu einem Abstands-Cappuccino traf, zuletzt vor zwei Tagen oder vor zwei Wochen gesehen hatte?
Als ich während des siebzehnten Zoom-Meetings plötzlich das Gefühl hatte, durch ein Aquarium voller schnappender Fischmäuler zu schweben? Als mir der erbitterte Streit um Achille Mbembes angeblichen Antisemitismus wie ein Galaxien-Ping-Pong im Andromeda-Nebel vorkam?
Schweißgebadet erwachte ich eines mitternachts auf der Couch aus einem Alptraum auf. Wie Damien Hirsts Tigerhai schwebte ich in einem Aquarium voll Aspik. Das Smartfon war zu Boden geglitten, Dunkelheit umgab mich, nur im Treppenhaus hörte ich jemand kaum merklich die Stufen hinauf ächzen.
Mit einem Ruck richtete ich mich auf, taumelte wie ein Schlafwandler aus dem Haus und goss mit letzter Kraft das zarte Wildapfelbäumchen, das ich letzten Herbst in die Rabatte vor unserem abgekämpften Mietshaus gepflanzt hatte. Bald soll die große Dürre kommen.
Eine Ausstellung über die Geschichte der documenta. Als Raphael Gross, der frischgebackene Direktor des Deutschen Historischen Museums (DHM), Ende 2017 ankündigte, eine Ausstellung über die Geschichte der documenta veranstalten zu wollen, ging das noch im allgemeinen Betriebsrauschen unter. Die Begründung des Schweizer Historikers und ehemaligen Direktors des Jüdischen Museums in Frankfurt damals klang freilich so naheliegend, dass man sich wunderte, warum der Kunstbetrieb nicht selbst darauf gekommen war.
Schließlich sei die documenta, so Gross in einem Gespräch, eine Schau, die in Deutschland zu einer Zeit entstanden sei, wo man versuchte, „sich neu zu orientieren in der Welt gegenüber Kaltem Krieg, gegenüber der sozialistischen Kunst, gegenüber der ‚Entarteten Kunst‘-Verdammung durch den Nationalsozialismus“. Welche Sprengkraft der Plan entwickeln sollte, zeigt sich dann knappe zwei Jahre später. Auf einer vorbereitenden Tagung des DHM im Berliner Zeughaus Ende Oktober 2019 wurde durch Recherchen der Cambridger und Kölner Kunsthistoriker*Innen Bernhard Fulda und Julia Friedrich einer größeren Öffentlichkeit erstmals bekannt, dass Werner Haftmann, Arnold Bodes wichtigster Mitarbeiter bei der Schau, von 1937 bis 1945 Mitglied der NSDAP gewesen war. Eine große öffentliche Debatte war die Folge.
Seitdem wächst die Neugier über die Konzeption der Ausstellung. Für Gross ist die documenta deshalb interessant, weil man ihr in Fünfjahresschritten „die Chronologie einer politisch-ästhetischen Geschichte der Bundesrepublik erzählen“ könne. Diese Chronologie soll die Ausstellung entlang dreier Vektoren nachvollziehen: Dem Verhältnis der documenta zur NS-Zeit, zum Kalten Krieg und zur DDR und zum Westen. Dazu will Gross möglichst viele der Original-Kunst-Installationen der einzelnen documenta-Ausgaben „in Bezug setzen zu den Objekten des Museums, die die Zeitphänomene illustrieren, auf die sich die Kunst bezieht“.
Von dieser Gegenüberstellung verspricht sich der DHM-Direktor, der gerade auch die neue Dauerausstellung des DHM konzipiert, Aufschluss über die Frage, wie man mit Kunstwerken generell in einem historischen Museum umgeht. Zur Sammlung des DHM gehören nämlich auch sehr viele Kunstwerke. Natürlich versteht sich die Ausstellung in kritischer Absicht: Gross will „sehen, ob sich die Dinge, die man sich gern über die documenta ausdenkt und erzählt, mit dem übereinstimmen, was wir dann in den Archiven finden“.
Für dieses Vorgehen setzt der DHM-Direktor bei seinem Projekt nicht auf die sattsam bekannten Namen des internationalen Kuratoren-Karussells oder documenta-Insider. Mit der Zeithistorikerin Dorothee Wierling, der Kunst-Wissenschaftshistorikerin und ehemaligen FAZ-Kunstredakteurin Julia Voss und dem Autor, Kurator und Wissenschaftler Lars Bang Larsen hat er ein Kurator*Innen-Team verpflichtet, dessen Interdisziplinarität für neue Sichtweisen auf ein zum Mythos geronnenes Institut gut sein könnte.
Zeitlich wird die Ausstellung die Ausgaben der documenta 1 von 1955 bis zu Jan Hoets documenta 9 im Jahr 1992 umfassen. Mit der documenta selbst hat Gross vereinbart, dass das DHM das documenta-Archiv für seine Forschungen nutzen kann. Im Gegenzug sollen die Erkenntnisse, die seine Forscher sammeln oder die Oral-History-Interviews, die sie für die Ausstellung führen, später im documenta-Archiv in Kassel aufbewahrt bleiben.
Eine gewisse Brisanz birgt der Fakt, dass die Berliner Schau im Frühjahr 2021 und damit ein gutes Jahr vor der Eröffnung der documenta 15 eröffnen soll. Was immer sie zeigen wird, dürfte an der Kasseler Schau nicht spurlos vorübergehen. Weitere Funde zum NS-Komplex sind zumindest nicht auszuschließen.
Zeitgleich zur documenta-Schau will das DHM zudem eine Ausstellung zeigen, die sich mit der gut 1000 Namen umfassenden Liste der „Gottbegnadeten“ Künstler befasst. Darin ließen Hitler und Goebbels 1944 alle für Regime unverzichtbaren Kunstschaffenden zusammenfassen. Wie über allen Ausstellungs-Projekten derzeit schwebt auch über dem ambitionierten DHM-Projekt das Damoklesschwert Corona. Noch ist nicht abzusehen, ob die Pandemie eine Verschiebung oder Umplanung notwendig machen wird.
„Ich will doch nur die Überweisung“. Der alte Mann, der die Straße entlang humpelt, stoppt vor der Post. Mit zitternder Hand hält er zwei orange gerasterte Zettel in die Höhe. Fassungslos fixiert er die Schlange vor der Stahltreppe hinauf zum Eingang, dreht sich zu dem jungen Mann mit Migrationshintergrund und gelber Schutzweste, der das Geschehen von oben dirigiert. „Nur die Überweisung“ wiederholt er und präsentiert seine Zettel wie Passierscheine. Die weißen Haare umtanzen ihn wie ein Strahlenkranz.
„Die wollen da nicht mehr als vier Leute drin haben. Wegen der Ansteckung“, erkläre ich dem geschockten Senior die Lage. Der Security-Löwe weist mit dem Finger in die Ferne. Die dunklen Augenhöhlen des Alten weiten sich zum Medusenblick, als er sieht, dass sich die Reihe der Abstandshalter bis zu dem Eingang des Alnatura-Ladens um die Straßenecke zieht. Er beginnt, unmotiviert mit den Armen zu schlagen. „Polizei kommt“, versucht sich der Treppenwächter zu rechtfertigen, „paarmal schon, messen jeden Meter“ und zuckt mit den Schultern.
Jahrzehntelanges Probestehen für das neue I-Phone und das Berghain, in Lichter- und Menschenketten haben Deutschland auf die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gut vorbereitet. Wahrscheinlich reihen sich deshalb jetzt fast alle so klaglos zur morgendlichen Schlange, auch wenn sie hier niemanden an den Händen halten dürfen.
Trotzdem steckt meinen Mitstehern eine gewisse Scham in den Klamotten, zu Statisten in einer Szenerie genötigt zu werden, die an das Regiment der Mangelwirtschaft mehr als an den Mäander der Spektakelkultur erinnert, der sich einst um die Nationalgalerie mit den Schätzen des MoMA wand.
„Wie früher, als wir für Bananen angestanden haben“ seufzt eine ältere Dame im dunkelblauen Kostüm. „Krass, guck Dir das an“ ruft ein Fahrradfahrer seiner Freundin zu. Ungläubig bestaunen sie die um die Stahlpoller gewundene Serpentine wie das Skelett eines Dinosauriers im Naturkundemuseum. Mir gefällt diese soziale Plastik gewordene Absage an die schnöde Gerade. Schönheit ist schließlich eine Schlangenlinie, freut sich Kritiker in mir, als ich wieder anderthalb Meter vorrücke.
Natürlich versuchen immer wieder ein paar dieses zum XL-Monster gestaute Distanzgebot zu unterlaufen. „Schlange ist Schlange, Filiale, Filiale“ wächst der Glatzkopf in weißer Tunika, der hier jeden Tag mit servilem Lächeln den „Querkopf“ verkauft, aus der Rolle des Gabenempfängers in die des Hilfssheriffs, als er eine Frau mit Sonnenbrille anherrscht, die sich mit einem gemurmelten „nur schnell mal was fragen“ vordrängeln will. „Bettruhe bei nationalem Fieberwahn“ steht auf seinem Fahrradkorb.
„Komm hoch“ ruft mir der echte Sheriff von der Rampe zu, als er mich in der Schlange erblickt. „Ich will mich nicht vordrängeln“ wehre ich ab. „Postfach, Blindenausweis, Geldautomat. Kann rein. Das entscheide ich“ entgegnet er. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.
Ich will nicht lügen. Zu Beginn des Coronozäns war ich auch von dem Schlangenritual genervt. Dann fügte ich mich in das Unvermeidliche, trat jeden Tag neu symbolisch der Solidargemeinschaft im Leid bei. Nach ein paar Tagen hatte sich dann eine Art Herdenimmunität gegen das Virus Ungeduld gebildet.
In stummem zivilem Gehorsam, die Köpfe auf das Smartfon gesenkt, Pakete unter dem Arm, Mundschutz über der Nase warten wir alle auf den Gang zum Schalter. „Wir kommen schon durch, paar Wochen noch“ murmelt mein Vordermann, als er sich dreht und die Nase in die Sonne reckt. „Dauert lange“ sagte der junge Mann auf dem Treppenabsatz ohne aufzuschauen. Abgebrüht wie ein alter Veteran im Schützengraben winkt er den nächsten hoch.
Mein Kunstwerk
der Stunde ist ein Objekt: Es sind die zwei Handschuhe, die Meret Oppenheim
1985 als Edition von 150 Exemplaren schuf: Zwei nebeneinander liegende
Handschuhe aus grauem Ziegenleder. Auf deren Rücken sind ganz fein in rotem
Siebdruck die Adern ihrer eigenen Hände aufgebracht.
Die Arbeit ist
nicht so bekannt wie die Kaffeetasse, die sie 1936 mit Pelz überzog. Sie demonstriert
aber einmal mehr, wie Oppenheim das Leblose zu animieren, rätselhaft aufzuladen
versteht. An die Schutzhandschuhe, mit denen wir uns heute vor einer Ansteckung
mit dem Corona-Virus zu schützen versuchen, hatte sie vor 35 Jahren natürlich
nicht gedacht. Jetzt wirken sie wie Symbolbilder für die Kontaktpanik in der
Pandemie.
Der
Surrealismus solle die Menschen umhüllen „wie ein Handschuh die Hand“ schrieb
einst der Großmeister André Breton. Auch mit ihrer Arbeit führt Oppenheim ins
Reich des Unterbewussten, als sie das Innere nach außen kehrt, den
verletzlichen Körper aus Fleisch und Blut hervorholt, den keine Schutzhülle
vergessen machen kann.
Handschuhe
sind ein Symbol des Schutzes. Die roten Linien auf der Arbeit lesen sich aber
auch wie das Kapillarsystem der Infektionen, das inzwischen die ganze Welt durchzieht.
Vielleicht war es kein Zufall, dass die Künstlerin die Arbeit im Jahr ihres
Todes geschaffen hat. Für mich zeigen Meret Oppenheims Handschuhe die offenen
Adern der Zivilisation.
Not macht erfinderisch – dass der Satz nicht nur ein blöder Spießerspruch ist, der Bescheidenheit lehren soll, dämmerte mir in irgendeiner Sommernacht, als ich mit Freunden auf der Admiralbrücke saß und ein paar emsigen türkischen Seniorinnen mit Hackenporsche zusah, die die leeren Flaschen einsammelten, die die ultralegere Meute ringsherum demonstrativ desinteressiert auf dem Bordsteinpflaster aufreihte.
Fasziniert von der Zeugenschaft beim Entstehen einer primitiven Kreislaufwirtschaft mit Nachhaltigkeitseffekten, eine Art performativer Feldversuch in primärer Akkumulation, nahm ich auf dem Nachhauseweg einfach mal alle Flaschen mit, die unmittelbar am Wegesrand standen und für die ich nicht im Gebüsch stochern oder mit der Taschenlampe in Müllbehälter leuchten musste.
Gut, es war eine warme Nacht. Wahrscheinlich waren es deswegen unglaubliche 19 Bierflaschen, etliche Club-Mates und Fritz-Kola und zwei Plastikflaschen XL Coke. Meine Mutter hatte doch recht: Das Geld liegt auf der Straße. Zum Glück sah mich niemand im Treppenhaus mit dem Flaschengold. Der Pfanderlös am nächsten Tag reichte für einen Cappuccino in der Espressolounge.
An diesen Selbstversuch habe ich mich vermutlich erinnert, als ich nach dem Beginn des Coronozän mitternächtliche Spaziergänge aufnahm. Es lädierte zwar den Habitus des melancholischen Late-Night-Existenzialismus, mit dem ich der Krise zu trotzen gedachte, als ich mich verstohlen bückte, und nach ein paar Flaschen griff, die an den Ausgängen der Columbia-Halle stehen geblieben waren. What the fuck? Wollte ich meine Misserfolge beim Klopapier-Hamstern damit kompensieren? Oder macht Not eben doch anfällig? Egal, dachte ich: Was man hat, hat man.
In schlechten Zeiten können auch ein paar Pfandflaschen nicht schaden. Plötzlich war der nächtliche Catwalk in weitem Bogen um den menschenleeren Kiez nicht nur das pflichtschuldig absolvierte Bewegungsminimum, sondern folgte einem höheren Sinn: Ich sammle. Je weiter ich lief, desto mehr staunte ich, wie wenig das rigide Berliner Kontaktverbot der Kulturtechnik des dislozierten Wegebiers etwas anhaben konnte.
Kaum ein Hauseingang, ein Schaufenster, eine Bushaltestelle, an dem sich nicht eine, eher zwei halbvolle Flaschen fanden. Was war hier los? Wo kamen die alle her? Feierten die immer noch alle ihre Corona-Parties? Sollten die nicht längst alle in der Quarantäne-Hölle schmoren?
Beim S-Bahnhof Yorckstraße hatte ich schon neun Bierflaschen und eine Coladose in der aus einem Dornenstrauch geklaubten Plastiktüte von Netto. So etwas wie Gier überkam mich. Plötzlich war nicht mehr der Weg das Ziel, sondern das herrenlose Leergut. Kein gläserner Rest war jetzt mehr vor mir sicher.
Schon von weitem meinte ich die Lichtreflexe versteckter Flaschenkörper schimmern zu sehen. An einem schummrigen Späti guckten die beiden Kämpen, die vor der Tür ein verbotenes Bier zischten, unsicher, als ich ihre fast leeren Flaschen mit einem Glitzern in den Augen taxierte.
Nur der Rollenwechsel vom Prekariat zum Lumpenproletariat wollte nicht recht funktionieren. Bei jedem Passanten tat ich betont unauffällig und versuchte die verräterisch klirrende Plastetasche in eine stabile Seitenlage zu bugsieren. Wenn ein Gassi-Geher samt Vierbeiner in Sichtweite einer Flasche herumbummelte, vertiefte ich mich in’s Smartfon, bis die Bahn frei war. Ich bin ja kein Flaschensammler, ich sammle nur!
Meine Profi-Kollegen, die mit dicken Taschen auf dem Fahrrad ungeniert systematisch vorgingen, mied ich. Nur am Viktoriapark ließ ich mich verleiten, einem Weg ins Dunkle zu folgen. Schließlich thronte auf einem verschmierten Papierkorb eine fette Fünfer-Corona Berliner Pilsener. Ich hatte schon die Hand ausgestreckt, als plötzlich hinter einem Busch die Scheinwerfer eines blauen Autos mit sieben silbernen Buchstaben aufblendeten.
„Bitte halten Sie Abstand. Damit wir
uns bald wieder nah sein können“. So oder ähnlich lauten die Warnhinweise
überall auf der Welt derzeit. Und wenn sie nicht so drängend konkrete Gründe
hätten, könnte man derlei Slogans für ein grandioses Experiment in höherer Dialektik
halten, so wie die Menschheit gerade auf ein Paradox eingeschworen wird:
Füreinander einzustehen, ohne sich dabei begegnen zu können.
Gut, Solidarität drückt sich nicht
immer in körperlicher Nähe aus. Sozialer Beistand kann auch bei räumlichem
Abstand geleistet werden. Unser Sozialstaat ist institutionalisierte
Solidarität. Und der berühmte Generationenvertrag, der ihm zu Grunde liegt, ist
ein Abstraktum und kein massenhaft absolvierter Rütlischwur unter freiem Himmel.
Trotzdem wuchs Solidarität aus dem
Zusammenschluss realer Körper, der gerichteten Kraft assoziierter Individuen.
Vom Sturm auf die Bastille bis zum Arabischen Frühling. Auch wenn sie
inzwischen Rituale sind.
Die Maidemonstrationen, die an die
Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts erinnern, können die Video-Solidaritätsadressen
nicht ersetzen, die heute selbst bei revolutionären Protestversammlungen gang
und gebe sind. Keine Kunst, keine Kultur, keine Solidarität ohne volle Säle,
ohne Menschen, die sich auf die Pelle rücken.
Ob die Corona-Krise den
Neoliberalismus gekillt haben mag, wie jetzt überall gejubelt wird, wird sich
zeigen. Immerhin hat sie das Dogma des deregulierten Staates ad absurdum
geführt. Unübersehbar hat sie deutlich gemacht, dass Solidarität heute etwas ist, worauf
alle angewiesen sind.
Sie ist ein
Paradebeispiel für dieses langsame Wiedererwachen eines Gefühls wechselseitiger
Abhängigkeit: Von den Gabenstellen für Obdachlose bis zu den Einkaufsdiensten
für betagte NachbarInnen.
Ganz neu ist
das nicht: Die Renaissance der neuen Solidarräume, die schon in den letzten
Jahren zu erleben war, reklamiert diese freilich nicht nur als Idee. Die neuen Genossenschaften,
Lerngruppen und urbanen Kooperativen – wollen diese Räume immer mit realen
Menschen füllen, nicht nur eine coole App draus machen.
Sieht man davon ab, dass Abstand
halten ein soziales Privileg ist. Nicht jede New Yorker Krankenschwester kann
sich in ihr Landhaus in den Hamptons zurückziehen. Es stimmt natürlich trotzdem:
Abstand halten rettet Leben, Abstand halten schafft Zusammenhalt.
Die Appelle von Krankenschwestern und
ÄrztInnen aus Italien erinnern schmerzlich daran. Und die Balkonkonzerte in Italien und
anderswo zeigen: Es lässt sich auch über Distanz soziale Nähe herstellen.
Das freilich
wäre das richtige Wort. Denn nur die physische Distanz schützt vor Ansteckung. Aber
auf diese Nähe, die erst Gemeinschaft schafft, wollen wir gerade jetzt nicht
verzichten. Sie erst gibt uns das Gefühl, dass wir nicht ganz alleine auf der
Welt sind.
Genies der Selbstisolation wie
Nietzsche und Hölderlin, die in der Krise plötzlich zu Prototypen der
Quarantäne-Ära stilisiert werden, sind in Wahrheit eine wenig nachahmenswerte
Ausnahme. Die Sozialdistanz, die sie praktizierten, war ja mehr traumatisch als
prophetisch.
Unter diesem Stichwort wird jetzt eine
zwiespältige habituelle Praxis eingeübt. Nicht nur weil mit dem Begriff auch das
neoliberale Ideal der Selbstsozialisation aufgerufen wird, für das, frei nach
Margaret Thatcher, „no such thing as society“ existiert.
Sie prägt eben auch das Verhalten. Mensch
erschrickt bei mehr als zwei Personen auf der Straße, schreckt zurück, wenn
jemand die Tür offenhält, geht auf Abstand, sobald sich jemand nähert. Vorsicht
und Misstrauen dem unmittelbaren Gegenüber, so notwendig sie eine Zeit lang auch
sein mögen, werden zur Gewohnheit.
Doch was passiert mit Menschen, die
ihre Sozialkontakte wochenlang um 97, 98 Prozent herunterfahren? Die Menschenketten
gegen den neuen Faschismus nur noch online bilden dürfen? Was mit Menschen, die
auf ein Verhalten „ohne jede Form von Gruppenbildung“ konditioniert werden? So
lautet das amtliche Berliner Distanzgebot.
Was, wenn es nach der Krise heißt: „Zu
Kurz Gekommene Aller Länder, Vereinigt Euch“. Sich dann aber niemand mehr
richtig solidarisieren kann? Weil kaum noch einer weiß, wie es geht?
„Distanz ist die erste Bürgerpflicht“
verklärte eine deutsche Tageszeitung eine epidemiologische Vorsichtsmaßnahme
zum kategorischen Imperativ.
Je länger der Ausnahmezustand namens „Sozialdistanz“
dauert, desto größer auch die Gefahr, dass die Nah- und Kollektiverfahrung
Solidarität auf der Strecke bleibt. In Zeiten der Krise lernt der Mensch. Wir
erleben es gerade. Er kann aber auch viel verlernen.
203 Porträtfotos an einer Wand: Nazi-Größen wie Goebbels und Goering hängen neben unbekannten Flakhelfern oder dem Künstler Joseph Beuys. Vor drei Jahren provozierte Piotr Uklanskis Arbeit „Real Nazis“ die Besucher der documenta in Kassels Neuer Galerie mit der Frage: Welche waren eigentlich die wirklichen Nazis? Die großen Schergen oder auch die unbekannten Mitläufer?
Nachgerade wirkt Uklanskis Werk prophetisch. Denn jetzt hat diese Frage die Weltkunstschau selbst eingeholt. Waren etwa einige der documenta-Gründerväter etwa „real“ Nazis?
Begonnen hatte alles Anfang 2019. In einer Fußnote des Katalogs der Schau „Emil Nolde – Der Künstler im Nationalsozialismus“ in Berlins Hamburger Bahnhof hatte Kurator Bernhard Fulda, Historiker in Cambridge, erstmals auf die NSDAP-Mitgliedschaft Werner Haftmanns hingewiesen. Der Kunsthistoriker war der wichtigste Berater von documenta-Gründer Arnold Bode während der ersten drei Ausstellungen.
Wenige Monate später verschärften Fulda und die Kunsthistorikerin Julia Friedrich vom Museum Ludwig ihre kritische Sicht der „grauen Eminenz“ der documenta auf einer Konferenz des Deutschen Historischen Museums (DHM) zur „Politischen Geschichte der documenta“. Sie verwiesen auf einen Aufsatz Haftmanns in der NS-Zeitschrift „Kunst der Nation“, in dem dieser den Nazis 1934 den Expressionismus als von „deutscher Art“ anpries.
Nach 1945 verbuchte er ihn als Medium europäischer Verflechtung. Den Nazi-Sympathisanten und Antisemiten Emil Nolde adelte Haftmann zu einem der inneren Emigranten, die sich im Dritten Reich angeblich wie die „Lilie vom Felde“ nährten.
Dass die politische Vergangenheit der documenta-Gründergeneration erst jetzt entdeckt wurde, stellt dem Kunstbetrieb in Deutschland ein Armutszeugnis aus. Die NS-Nähe von documenta-Protagonisten der ersten Stunde wie Hermann Matern, Herbert von Buttlar oder Alfred Hentzen war schon länger bekannt.
Auch zu Haftmann gab es seit den siebziger Jahren Hinweise. Zu einer systematischen Durchleuchtung bequemte sich die deutsche Kunstgeschichte aber nicht, geschweige denn zu einem Diskurs.
Die Enthüllungen markieren eine unerwartete neue Etappe deutscher Vergangenheitsbewältigung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzte dieser Tage eine Historiker-Kommission ein, um die NS-Kontinuitäten im Bundespräsidialamt zu untersuchen. Ein Hobbyhistoriker enttarnte Alfred Bauer, den Gründungsdirektor der Berlinale, als alten Nazi. Jetzt haben die braunen Schatten auch die documenta eingeholt.
Im Licht der jüngsten Erkenntnisse erscheint das Selbstverständnis der Schau als Gestalt gewordener Beweis deutscher Umkehr, als Flaggschiff des besseren Deutschland, als Motor der Wiedergutmachung gegenüber Verfemten, „Entarteten“ und der Moderne schal. Denn das documenta-Narrativ war auch ein taktisches Kalkül zur Selbstreinwaschung, Verschleierung und zur Abwehr der Vergangenheit.
Mag sich die documenta auch zu einer Schau der kritischen Weltsicht entwickelt haben. Der Mythos der documenta gründete immer auf der ethischen und ästhetischen Integrität ihrer Gründer. Nun ist er beschädigt.
Die jetzigen Enthüllungen treffen die Schau zur denkbar ungünstigen Zeit. Die Diskussion darum wird nicht nur die Arbeit des Kuratoren-Kollektivs Ruangrupa überschatten. Nach den Querelen um die documenta 14 sollte die Weltkunstschau eigentlich in eine neue Phase starten.
Mit einer neuen „documenta-Professorin“, der Übernahme des documenta-Archivs, einem neuen, mit sechs Millionen Euro üppig alimentierten „documenta-Institut“ und dem neu besetzten Fridericianum, wächst das früher bescheidene documenta-Büro zu einem ästhetisch-bürokratischen Komplex mit einer „Generaldirektorin“ an der Spitze, der sein Eigengewicht gegenüber der eigentlichen Schau entwickeln dürfte. Nun muss sie sich auch noch mit ein paar alten Nazis herumschlagen.
In der Zangenbewegung zwischen Institutionalisierung und Historisierung hilft der documenta nur die Offensive. Ihre Erfolgsgeschichte sichert sie, wenn sie ihre Geschichte kritisch aufarbeitet. Diese Selbstbefragung sollte sie von sich aus anstoßen. Sie ist nämlich keine historiographische Pflichtübung, sondern eine eminent politische Aufgabe.
Die documenta kann sie weder an die Ausstellung zur documenta-Geschichte des DHM delegieren, die im Frühjahr 2021 eröffnen soll, noch an das documenta-Institut. Der Superlativ „Weltkunstschau“ verpflichtet. Zusammen mit Zeitzeugen, Künstlern und Wissenschaftlern muss die documenta eine breite öffentliche Debatte anstoßen.
In Zeiten des grassierenden Rechtsextremismus wäre sie ein Zeichen dafür, dass sie die Frage nach dessen Ursachen ernst nimmt. Je rascher sie beginnt, desto besser.
„Ich verstehe“. Den Satz sagt Queen Elisabeth immer dann, wenn sie mehr ahnt, als versteht. Aber so tun muss, als ob. Wenn ihr der Premierminister eine internationale Krise ankündigt, eine drohende Kabinettsintrige. Oder wenn ihr Privatsekretär ihr vorsichtig beibringen muss, dass Prinz Philipp in eine delikate Affäre verwickelt ist, die das Königshaus und die royale Ehe kompromittieren könnte. Sie strafft den Rücken, rückt den Kopf gerade und nimmt Haltung an wie ein energischer Wellensittich.
Wenn jemand eine Möglichkeit gesucht
hätte, der britischen Monarchie den Todesstoß zu verpassen. Die Pose erhabener Ratlosigkeit,
in die sich Regisseur Stephen Daldry Ihre Majestät Königin Elisabeth II. alias Claire
Foy alias Olivia Colman in Peter Morgans Netflix-Seifenoper „The Crown“ retten
lässt, wäre eine solche. Diese Königin wider Willen wirkt wie die Karikatur von
Lenins Diktum, dass jede Köchin in der Lage sein müsse, die Staatsmacht
auszuüben.
Folge um Folge bestätigt die überaus erfolgreiche
Serie unser Vorurteil von dem englischen Königshaus als skurriles
Paralleluniversum mit defizitärer Führungskompetenz. Während Großbritannien
durch eine schwere Wirtschaftskrise taumelt, ist die Königin mehr an der
Innovation ihres eigenen Unternehmens interessiert.
Mit ihrem Busenfreund und Stallmeister,
dem 7. Earl von Carnavaron, genannt „Porchey“, verschwindet sie auf eine „fact-finding-mission“
in Sachen Pferdezucht nach Frankreich und in die USA. Und als 1957 die
Suez-Krise ausbricht, beschäftigt sie vor allem das Foto einer Ballerina,
welches sie in einer Reisetasche ihres Mannes gefunden hat. So konsequent wie
sie auf die Binnenperspektive setzt, zeigt „The Crown“ die Welt, vom Palast aus,
gesehen.
Als Elisabeth 1953 gekrönt wurde,
durfte der sublime Moment der Salbung mit dem heiligen Öl, von dem es im
Buckingham Palast noch einen Rest geben soll, den Augen der Gäste in der
Westminster Abbey mit einem Baldachin entzogen. In der Serie erscheint dieses
göttliche Institut aber als durchaus anfällig für irdische Untugenden. Wie die
Hohenzollern haben auch die Windsors in Gestalt Ihres eitlen Protagonisten, dem
abgedankten König Eduard VIII., mehr als nur mit den Nazis geliebäugelt.
Die Binnenperspektive sagt auch etwas
aus über die eingeschränkte Wahrnehmung der Macht. Wie viele Tage dauert es,
bis Elisabeth begreift, dass sie auf das schwere Bergwerksunglück 1966 im
walisischen Aberfan mit einem raschen Besuch hätte reagieren müssen? Mag sie
auch als PR-Coup eingefädelt worden sein. Angesichts dieser Geburtsfehler des Palastlebens
gewinnt der Exit von Harry und Meghan Sussex aus dem royalen
Wahrnehmungsgefängnis den Charakter einer exemplarischen Befreiungstat.
„The Crown“ ist freilich auch eine melancholische
Entwarnung vor der Renaissance der Willkür des Gottesgnadentums. Entrollt sich
doch vor unseren Augen das Drama des Machtverlustes – bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung der symbolischen Oberhoheit.
„Wir sind Marionetten geworden“ beklagt
Queen Mom Elisabeth mit verbitterter Miene den schleichenden Tod der Monarchie,
kurz bevor ihre Tochter nach Lord Altrinchams geharnischter Kritik an ihren entrückten öffentlichen Auftritten 1957
das Ruder herumreißt, zum ersten Mal eine Weihnachtsansprache im Fernsehen hält,
zum ersten Bürgerempfang in Buckingham Palace einlädt und sich im Schlosshof
Klempner und StudienrätInnen zum Small-Talk mit den beiden gekrönten Häuptern aufreihen.
Elisabeth ist so klug, sich in das Unvermeidliche zu fügen: „Wir schauen tatenlos zu und warten bis sich das Volk entscheidet“, weist die Queen ihren geschockten Onkel Lord Mountbatten zurecht, als der sich mit dem Gedanken trägt, an die Spitze einer Verschwörung gegen die immer unbeliebtere Labour-Regierung von Harold Wilson zu treten, die ihn als Militärchef geschasst hat. „Wir haben gelernt, keine Stimme zu haben“.
Ganz schmerzlos geht das freilich auch bei einem Zwangscharakter nicht ab, der von Kindesbeinen in der Sekundärtugend „It’s our duty“ gedrillt wurde. Es gibt einen Moment in „The Crown“, in dem Elisabeth, nachdem sie ihren ersten, geliebten Premierminister Winston Churchill auf dem Totenbett besucht hat, wehmütig eine Gruppe von Wählern ansieht, die sich aus sicherer Entfernung zu ihrem mit Chauffeur gefahrenen Auto an ihrem örtlichen Wahllokal anstellen.
Sie ist die mächtigste Person des Landes. Auch wenn diese „Macht“, frei nach Georg Friedrich Wilhelm Hegel nur darin besteht, der Idiot zu sein, der einem, bis zum letzten Komma von außen diktierten Inhalt den zeremoniellen Segen des „Dies ist mein Wille. So sei es!“ verleiht. Und doch bleibt ihr eines verweigert, das ihren Untertanen Macht verleiht: die Abstimmung.
Trotz dieses kritischen Subtextes kommt
die Serie zur rechten Zeit. So wie sie royalistische Sehnsüchte bedient. Nicht
zufällig auch zu Zeiten, wo die demokratischen und egalitären Konditionen der
Demokratie geringgeschätzt werden und zu implodieren drohen. In Zeiten des allgemeinen
Kollapses bevorzugt die Seele nun mal das Stabile.
In Deutschland ist es die Schizophrenie
eines Hohenzollernschlosses, das dem postkolonialen Dialog gewidmet sein soll. In
Großbritannien ist es die liebevolle Annäherung an die poröse Form der Sandburg
einer überforderten Familie, die oft nur mehr von einem sehr dünnen Hosenbandorden
zusammengehalten wird.
Da schaut mensch auch schon einmal
über den Sarkasmus hinweg, dass zu Zeiten sozialer Exklusion, beruflicher Deklassierung
und verweigerter Diversität in „The Crown“ unentwegt Bürgerliche, adlige und gekrönte Weiße darüber klagen,
wie sie unter ihren Privilegien, an ihrer luxuriös gepolsterten Ohnmacht leiden
und wie sehr sie ein anderes Leben anstreben. Selbst ein klassenbewusster
Arbeiter in der Labour-Hochburg im mittelenglischen Bassetlaw dürfte Mitleid
mit Prinzessin Margarets gescheiterter Flucht in die Bohème empfinden.
Mit der Qualität des cineastischen Handwerks
oder dem Schlafzimmerblick des jungen Prinz Philipp allein lässt sich die
enorme Bindewirkung der Serie nicht erklären. So hölzern sind Dialoge und
Szenenführung gestrickt.
Die Schlüssellochperspektive ist durch
die zeitgenössische Yellow Press mehr als ausgereizt. Wirklich aufregend Neues
über die Essgewohnheiten der Queen, ihre Corgies oder das Liebesleben von
Prinzessin Margaret hat sie nicht wirklich zu bieten.
Der immense Erfolg rührt von der
Strategie der Intimisierung. Von den Liebes- und Lebensbedingungen der
gewählten Politiker wissen wir inzwischen fast weniger als von denen der Royal
Family.
Und wie könnte den Massen das Seelengift
des Royalen besser injiziert werden als durch die Szene, in der die Königliche
Familie im Wohnzimmer von Buckingham-Palace gemeinsam vor dem Fernseher der
Mondlandung entgegenfiebert oder die Queen sich morgens die Marmeladebrötchen
am Frühstückstisch selbst schmiert?
In Szenen wie dieser schnurrt Ernst
Kantorowiczs erhabenes Dogma von den zwei Körpern des Königs auf die Faustregel
des singulären royalen Couchpotato zusammen.
So gesehen ist „The Crown“ auch eine
moderne Version des Sissy-Syndroms. Einerseits bietet sie eine fantastische
Spiegelfläche für die Opfer eines prämodernen double-bind: Der
Verhaltensanomalie, sich für die Zuwendung, die mensch durch huldvoll gehauchte
Banalitäten zu erfahren meint, mit untertänig zurück geheuchelter Zuneigung zu
bedanken.
Die Monarchie als Ritual folgenloser
Aufmerksamkeit und symbolischer Kompensation erodierender Solidarität nach
einer schier endlosen Tory-Dekade mit seinem exzessiven Sozialabbau. Der
Labour-Slogan „For the many, not for the few” bezog seinen anfänglichen Erfolg nicht
nur aus der Empörung über diese soziale Schieflage, sondern auch aus der emotionalen
Unterversorgung in der neuen britischen Klassengesellschaft.
Mag sie mit 30 Folgen auch das
Geheimnis und den Mythos gründlich zerstören, aus dem das Institut des
Königtums seine Magie bezieht. So gründlich leuchtet sie das Arkanum aus.
In Zeiten raubeiniger Autokraten bedient
die Serie die Sehnsucht nach dem unschuldigen Herrscher, nach der Liebhaberin
im Machtgewand, nach der Königin der Herzen.
In der Monarchie, sei sie auch
äußerlich mit dem Makel belastet, eine Bande anachronistischer GreisInnen in verstaubten
Staatsroben zu sein, schlummert der Wunsch nach der organischen Legitimität.
Nach einer, von Abstimmungen und Konfliktritualen ungetrübten Einheit des Staatskörpers.
So gesehen ist „The Crown“ ein Oxymoron: Symptom des prädemokratischen Regresses und – in dem sie die Legitimitätsfrage stellt – zugleich eine Warnung davor.