Armut und Anmut

Heute morgen kam mir in Kreuzberg ein Mann entgegen, den man früher vielleicht Bettler gennate hätte. Heute heißt er Nichtseßhafter. Ein älterer Mann, ziemlich zerlumpt, unrasiert, lange, strähnige, fettige Haare, bekleidet mit Klamotten von undefinierbarer Farbe und einer braunen Papiertüte in der Hand. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und hatte es eilig. Er wollte die Kreuzung an einer unübersichtlichen Ampel überqueren, ich genau an dieser Stelle in den Kreisel einbiegen, der als Kottbusser Tor quasi zur Metapher von Armut, Schande und Verbrechen geworden ist. Es ging alles rasend schnell. Unaufhaltsam bewegten wir uns aufeinander zu. Bis er einsah, dass er vermutlich den Kürzeren ziehen würde. Und mit einem galanten Manöver den Rückzug antrat. Er tat das nämlich beileibe nicht etwa einfach so, ohne viel Aufhebens. Sondern mit dem artistisch angehauchten Exhibitionismus, der Outcasts so häufig eigen ist: Er stoppte demonstrativ, tänzelte ein bisschen auf der Stelle, zog den imaginären Hut, machte einen ziemlich imaginären Knicks und trat die entscheidenden drei Schritte zurück: Ich konnte weiterfahren. Poverty is no disgrace hat der amerikanische Maler David Salle 1982 einmal ein dreiteiliges Öl-Bild aus dem Jahr 1982 genannt, auf dem eine amorphe Menschenmasse, ein Knäuel Armer, zu sehen ist. Als ich mir die Fernsehbilder von der Schlacht um den Stuttgarter Bahnhof an- und dem im Fett der Macht ruhenden Steffan Mappus dabei zusehe, wie er vor den Kameras beteuert, beim Stuttgarter Bahnhof keinen Rückzieher machen zu wollen, denke ich mir: sie hat auch manchmal die größere Anmut.

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